Vor einigen Tagen wurde im russischen Staatsfernsehen darüber diskutiert, wie lange es dauern würde, bis russische Atomraketen europäische Hauptstädte treffen. Wie der Westen im Fall der Fälle einen derartigen Angriff abwehren könnte? Aktuell gar nicht – in Zukunft könnte möglicherweise ein Raketen-Abwehrschirm zumindest für ein bisschen Schutz sorgen. Wir werfen vorerst aber mal einen Blick zurück in die Geschichte und die Entwicklung von Rakaten-Abwehrsystemen.

Als während des Besuches von UN-Generalsekretär António Guterres in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Ende April zwei russische Raketen wenige Blocks von seinem Aufenthaltsort entfernt im Stadtzentrum einschlugen, war die internationale Aufregung groß. Einerseits wegen dem Angriff selbst, andererseits weil es sich dabei nicht um irgendwelche Raketen handelte, sondern um sogenannte Iskander-M, die auch mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden können.

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Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung sah in den Angriffen (davor war es in Kiew zwei Wochen lang „ruhig” gewesen) eine „Botschaft an den Rest der Welt”. Auch wenn Guterres den Vorfall offiziell herunter spielt und keine Respektlosigkeit gegen ihn sieht, die Botschaft war eindeutig: „Wladimir Putin hat den Raketeneinsatz befohlen und niemand ist vor ihm sicher. Auch nicht der höchste Vertreter der Vereinten Nationen.” Sollte der russische Präsidentn gemäß der Madman-Theory handeln, dann tut er das jedenfalls sehr überzeugend und mit recht hohem Einsatz.

Die Zeichen der Zeit waren schon vor dem Einschlag eindeutig – für jene die sie lesen können. Und so darf es nicht überraschen, dass zuletzt auch hohe Militärs aus Deutschland, der Schweiz und Österreich eine mögliche Raketenabwehr für Europa diskutierten, mit allen Implikationen die das mit sich bringt. Dazu sei an dieser Stelle auch auf den Podcast von Generalmajro i.R. Herbert Bauer verwiesen – über Atomkrieg, politische Spiel mit Drohkulissen und das „Gleichgewicht des Schreckens”.

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Einordnung
Vorweg. Wenn wir hier von „Raketenabwehr” reden, dann im Kontext ballistischer Raketen mit taktischen und strategischen Reichweiten. „Raketenabwehrsysteme” gibt es natürlich auch um Panzer oder Schiffe vor (tragbaren) Raketenwaffen zu schützen. Ebenso natürlich Flugabwehrsysteme die Drohnen oder Marschflugkörper abwehren sollen. Teilweise gibt es Überschneidungen und auch Systeme mit Mehrzweckfunktion. Dieser Artikel bezieht sich primär auf Abwehrsysteme, die ballistische Raketen unschädlich machen sollen. Das sind Systeme, die im Stande sind mit vielfacher Schallgeschwindigkeit in hohem Bogen fliegende Raketen zu erwischen, die mithin tausende Kilometer weit fliegen und auf ihrer Bahn zeitweise durchs Weltall rasen, das definitionsgemäß in 100 Kilometern Höhe über dem Meeresspiegel beginnt, bei der „Kármán-Linie” (benannt nach dem aus Österreich-Ungarn stammenden Luftfahrttechniker und Aerodynamik-Pionier Theodore von Kármán, 1881-1963).

Am Anfang war – fast – Ronald Reagan
Im Grunde – und von einigen Vorläufern abgesehen, doch dazu später mehr – beginnt die Geschichte der modernen Raketenabwehr mit dem republikanischen US-Präsidenten und ehemaligen Schauspieler Ronald Reagan (1911-2004, Präsident 1981-1989). Am 23. März 1983 kündigte Reagan ein Programm an, das umgangssprachlich als „Star Wars” berühmt wurde. Diese „Strategic Defense Initiative” (SDI) war eine neue Front im Kalten Krieg zwischen den Blöcken in Ost und West und als Forschungs- und Entwicklungsprogramm für einen Abwehrschirm gegen sowjetische Interkontinentalraketen ausgelegt.

@White House Photo Office
Reagan bei seiner TV-Rede am 23. März 1983, bei der er das SDI-Projekt ankündigte.r

Binnen weniger Jahre investierte das US-Militär an die 30 Milliarden Dollar nach damaligem Wert in Grundlagenforschung, um eine Vielzahl an Ideen und Konzepten zur Abwehr von Raketen auf ihre Realisierbarkeit abzuklopfen. Man bastelte etwa an boden- und flugzeuggestützten Abfangraketen, elektromagnetischen Kanonen, im All ausgesetzten Fangnetzen und Wolframkugeln sowie an Laserwaffen – unter Letzteren waren auf Satelliten gepackte Röntgenstrahlenlaser („Project Excalibur”). Es waren im Grunde kleine Nuklearbomben, deren Röntgenemissionen, die bei der Explosion entstünden, zu Dutzenden Strahlen gebündelt und gezielt auf an- und vorbeifliegende Raketen sowie einzelne Atomsprengköpfe geschossen würden.

@Lawrence Livermore National Laboratory
Grafische Vorstellung eines durch eine Nuklearbombe betriebenen Excalibur-Röntgenlasers.

SDI trug sich zu einer Zeit zu, als vor allem die Computertechnik noch auf recht bescheidenem Niveau stand. Private hatten damals – wenn überhaupt – Heimcomputer wie den legendären Commodore 64 mit 64-kB-Arbeitsspeicher, der im Vergleich zu heutigen PCs, Laptops und ähnlichen Geräten sozusagen die Leistung einer Semmel hatte. Profisysteme waren viel besser, aber im Vergleich zu heute immer noch schwachbrüstig. Die enormen Ansprüche etwa an Steuer- und Regeltechnik, die die teils utopisch anmutenden SDI-Projekte hatten, konnten mit der damaligen Computertechnik kaum erfüllt werden. Auch andere technische Aspekte waren schwer zu realisieren, dazu kamen kaum oder gar nicht überwindbare Hindernisse grundsätzlicher physikalischer Gesetze.

Angst um das „Gleichgewicht des Schreckens”
Zudem wehte politischer Gegenwind, weil es vielfach hieß, SDI würde das „Gleichgewicht des Schreckens” verändern, konkret einseitig zugunsten der USA, die zu einem Erstschlag verleitetet werden könnte, weil ja der kommunistische Gegenschlag vereitelt werden könne. Andererseits gab es denkbare Methoden, wie ein Angreifer die Abwehr hätte überlisten oder überlasten können. Viele SDI-Systeme hätten völkerrechtliche Verträge verletzt: Etwa das Verbot von Kernwaffen im All und den US-sowjetischen ABM-Vertrag von 1972, der jeder Seite 100 landgestützte Anti-Ballistic-Missiles zugestand und Entwicklung, Erprobung und Aufstellung neuer see-, luft- oder weltraumgestützter ABM-Systeme untersagte.

Wie es zu den Neptun-Treffern auf der „Moskwa” kam

Zur Umsetzung kam SDI, soweit öffentlich bekannt, nicht. Das Projekt hat aber viele technologische Fortschritte als Nebenprodukte und Basis künftiger Systeme abgeworfen. Ab 1987/88 wurde SDI gebremst und 1993 unter US-Präsident Bill Clinton eingestellt – oder, besser gesagt, man hat es unter anderem Namen auf die Entwicklung von taktischen und operativen Abwehrwaffen gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen umgestellt. Der Grund dafür hieß Saddam Hussein, doch dazu später.

@Archiv
Die V1 konnte von einem Jagdflugzeug abgefangen und beschossen oder schlicht mit der Flügelspitze aus der Bahn und zum Absturz gebracht werden.

Wenn man will, begann es in Deutschland und England
SDI hatte, wie erwähnt, doch bescheidene Vorläufer. Wenn man will, könnte man die Geschichte der Raketenabwehr sogar schon 1944 beginnen lassen, als die Deutschen mit dem Beschuss Englands durch die „Vergeltungswaffe” V1 begannen. Doch waren diese Flugkörper (eigentliche Bezeichnung: Fieseler Fi 103) in Wahrheit langsam (um die 600 km/h) und meist in recht niedriger Höhe (600 bis 900 Meter) fliegende Marschflugkörper mäßiger Reichweite (250 bis 370 Kilometer), die mit herkömmlichen Flugabwehrkanonen und Jagdflugzeugen recht gut bekämpft werden konnten. Von rund 12.000 V1, die bis März 1945 gegen England sowie Ziele in Belgien (vor allem Antwerpen) gestartet wurden, fielen rund drei Viertel durch die Abwehr und technische Defekte aus.

Die V1 gilt allerdings trotzdem als Ahnherrin aller heutigen Marschflugkörper, wenngleich man auch diesfalls Vorbilder und Ideengeber finden kann: Etwa in einem englischen Stummfilm von 1909, der von ferngesteuerten fliegenden Torpedos handelt; in dem vom US-Luftfahrtpionier Lawrence Sperry 1916 entwickelten „Aerial Torpedo”, der ein sprengstoffbeladener Doppeldecker war, aber nie zum Einsatz kam; oder in deutschen Experimenten mit ferngesteuerten sowie selbstfliegenden Luftschiffen. In der UdSSR gab es in den 1930er-Jahren sogar Versuche mit einer raketengetriebenen Gleitbombe mit Kreiselkompasslenksystem, die der V1 optisch durchaus ähnlich war.

Die Nachfolgerin der V1, die V2, war dann indes eine richtige ballistische Rakete, ihre Bahn hatte den Scheitelpunkt bei um die 90 bis mehr als 100 Kilometern Höhe, und sie schlug bei 250 bis 400 Kilometer Reichweite mit einer Geschwindigkeit von mehr als 5.000 km/h ein. Gegen sie gab es keine Abwehrmöglichkeit, man konnte ihren Anflug am Boden nicht hören und für damalige Radars war sie auch nicht immer zu erkennen. Sie wurde zur Urmutter aller folgenden ballistischen Raketen weltweit.

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Mit dem Aufkommen weitreichender, ja strategischer Atomraketen Ende der 1950er-Jahre begannen Überlegungen zu deren Abwehr, und zwar in mehreren Ländern, vor allem in den USA und der UdSSR. Die naheliegende und halbwegs machbare Lösung waren Abfangraketen.

Abfangraketen mit Atomsprengköpfen
Wegen der technischen Herausforderungen, die im Vergleich zu den 1980er-Jahren noch viel größer waren, griffen die Ingenieure allerdings zum „großen Knüppel”: Sie packten Atomsprengköpfe auf weitreichende, ursprünglich gegen Bomber gedachte und per Funk oder Radar gelenkte Flugabwehrraketen. Die Chance, eine anfliegende ballistische Rakete direkt zu treffen oder einen konventionellen Sprengkopf auch nur in deren unmittelbare Nähe bringen zu können, war nämlich gering (obwohl das damals gelegentlich gelang, angeblich erstmals im März 1961, und zwar den Russen). Dafür könnte eine Atomexplosion in großer Höhe auch gleich eine Vielzahl feindlicher Raketen und deren Gefechtsköpfe zerstören.

@Public Domain
Nike Zeus auf dem Raketen-Testgelände White Sands in New Mexico im Jahr 1961.

Die USA bauten unter anderen die Abfangraketen Nike Hercules und Nike Zeus mit Flughöhen von 46 bis mehr als 280 Kilometern. Ende der 1960er-Jahre folgte als Weiterentwicklung die Spartan, sie konnte – themonuklear bestückt – auf mehr als 550 Kilometer Höhe steigen. Sie sollte als „erster Schutzwall” dienen, und dazu die kleineren, extrem schnellen Sprint-Raketen mit 30 Kilometer Gipfelhöhe und wegen der niedrigen Einsatzhöhe sehr schwachen (wenige Kilotonnen TNT-Äquivalent) Atomsprengköpfen als zweiter Wall.

Die Sowjets bauten in den 1960er-Jahren ein System namens A-35, das im Vergleich zu den US-Modellen etwas größere Raketen Typ Fakel 5V61, auch A-350 beziehungsweise im Westen Galosh genannt, benutzte. Deren Flughöhe ist nicht eindeutig bekannt, es sollen mindestens 120 Kilometer gewesen sein, bei einem Einsatzradius von 350 Kilometern, die Stärke des Gefechtskopfs lag im Megatonnenbereich. Um Moskau wurden acht Startkomplexe zuzüglich Radars und Kommandobasen geplant, und Anfang der 1970er-Jahre letztlich vier dieser Startkomplexe zu je 16 Galoshs in Betrieb genommen.

Moskaus Raketenschutzring
Dieses Abwehrsystem, das trotz allem begrenzte Fähigkeiten hatte, wurde mehrfach modifiziert, erhielt verbesserte und höher (bis 900 Kilometer) fliegende Raketen und neue Radars und ist unter dem Namen A-135 noch heute aktiv – allerdings seit 2003 nur noch mit weniger hoch fliegenden Raketen (80 bis 100 Kilometer) mit schwachen (bis 10 kT) Gefechtsköpfen. Es hatte nämlich Warnungen wegen der Folgen megatonnenstarker Atomexplosionen für weite Landstriche gegeben, selbst wenn diese Explosionen in mehr als 100 Kilometern Höhe stattfinden. Gerüchten zufolge sollen diese großen Raketen aber noch teilweise in ihren Silos stehen.

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Hier ein Video (auf Russisch), das eine der großen Radaranlagen des aktuellen A-135-Raketenabwehrkomplexes um Moskau zeigt. Das Radar heißt Don-2N (Nato-Code: Pill Box) und steht in einem Wald im Bezirk Puschkino nördlich der Hauptstadt (siehe etwa hier und hier).

Die Amerikaner hingegen ließen ihre ABM-Systeme Mitte der 1970er-Jahre sanft entschlummern. Gründe waren der ABM-Vertrag, die geringe Schutzwirkung, der überproportional hohe Aufwand, die Kosten; dazu das Aufkommen der „MIRVs” (Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles), also der Mehrfachsprengköpfe beziehungsweise der Methode, gleich mehrere Nuklearbomben auf eine einzige Rakete zu packen, im All wie Schrotkugeln auszustoßen und jede selbstständig ins Ziel zu lenken, wodurch die Abwehr endgültig überfordert wurde.

Es gab auch Widerstände in der Bevölkerung, die nicht wollte, dass in der Nähe großer Städte und in Ballungsräumen Atomwaffen standen, selbst wenn es Defensivsysteme waren. Einige Abwehrraketen wurden dann 1975 zum Schutz von Interkontinentalraketensilos in North Dakota stationiert, aber im Folgejahr wieder abgebaut. Erst Ronald Reagan nahm die Idee wieder auf.

Dann ließ Saddam seine Scuds fliegen
Mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges sank die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlagabtausches erheblich. Statt dessen fanden sich die USA 1991 am Persischen Golf im Krieg gegen den Irak wieder, der im Vorjahr Kuwait erobert und dadurch eine internationale, UN-legitimierte Koalition mit den USA als Führungsnation gegen sich aufgebracht hatte. Um das politisch labile Gefüge der „Operation Desert Shield” beziehungsweise „Desert Storm” ins Wanken zu bringen, ließ Saddam Hussein russischstämmige Scud-Raketen gegen Saudiarabien und Israel schießen.

Die Scuds, direkte Nachkommen der deutschen V2 und unkompliziert von Transportfahrzeugen aus abschießbar, erreichten Mach 5, hatten Reichweiten von knapp 300 Kilometer, trugen konventionelle Gefechtsköpfe von zirka 1.000 Kilogramm und hatten eine sehr mäßige Treffergenauigkeit von 400 bis 500 Meter.

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Zwischen 80 und 100 Scuds wurden in den sieben Wochen des Krieges gestartet. Der verlustreichste Treffer, den die Alliierten einstecken mussten, war der in ein Lager der Pennsylvania National Guard in Dhahran, Saudiarabien, am 26. Februar 1991. Er forderte 28 Todesopfer und 98 Verwundete. Abgesehen davon war die Wirkung im Vergleich zum Aufwand vernachlässigbar: In Israel sollen zwar 74 Zivilisten gestorben sein, davon aber nur zwei (!) durch Scud-Explosionen, der Rest durch streßbedingte Herzinfarkte im Zuge des Alarmzustands. Rund 1.300 Häuser und einige tausend Wohnungen seien beschädigt worden, so die Statistik. Die Saudis beklagten ein Todesopfer und 78 Verwundete. Einfach gesagt: Die Scuds waren fast ausschließlich sprichwörtliche Schüsse in den Ofen.

Noteinsatz der „Patrioten”
Die US Army brachte gegen die Scuds notgedrungen ihre weitreichenden Patriot-Fliegerabwehrraketen (MIM-104C/PAC-2) in Stellung. Diese ab 1984 im Einsatz befindlichen, primär gegen Flugzeuge gedachten Waffen hatten erst ein Jahr zuvor ein Update erhalten, das sie zur Abwehr ballistischer Raketen befähigen sollte. Die Sache war also neu und noch nicht im Kampf erprobt.

Anfangs tönten die Amerikaner von einer Trefferquote der Patriots gegen Scuds in Höhe von 80 Prozent über Saudiarabien und 50 Prozent über Israel, stuften das aber bald auf 70 und 40 Prozent zurück. Im Lauf der Zeit nach dem Krieg stellte sich der wirkliche Wirkungsgrad als immer schwächer heraus, und eine zehnmonatige Untersuchung des Subkomitees „Legislation and National Security” des US-Repräsentantenhauses kam zum Schluss, dass es nur wenige Beweise dafür gab, dass mehr als einige wenige Scuds abgeschossen wurden.

Weitere Untersuchungen zeigten, dass nur ein direkter Aufschlag eines Patriot-Gefechtskopfs auf eine Scud gewirkt hätte. Während der Druck/Splitter-Gefechtskopf der PAC-2 nämlich reichte, um ein Flugzeug mit Hilfe eines Annäherungszünders zu zerstören oder schwer zu beschädigen, steckten die Scuds Löcher im Rumpf, sofern diese bereits ausgebrannte Raketenstufen betrafen, einfach weg. Auch ihr Gefechtskopf hielt Splitteraufpraller recht gut aus.

Unter dem Eindruck dieser Angriffe und dem Wissen, dass viele Länder über Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügten oder daran bastelten, richtete Präsident George H. W. Bush 1991 die Zielsetzung der Raketenabwehr neu aus. Der Name dafür war „Global Protection Against Limited Strikes”. Sein Nachfolger Bill Clinton (1993-2001) fokussierte die Anstrengungen der „Ballistic Missile Defense Organization”, der Erbin von SDI, 1993 erneut: Die Bemühungen sollten nicht auf eine strategisch-globale, sondern auf regionale Abwehr zielen, die Organisation dahinter wurde später „Missile Defense Agency” (MDA) genannt. Statt der Abwehr eines strategischen Großangriffes plante man nun eine „Theater Missile Defense”, wobei der Ausdruck „Theater” im Englischen für einen „Schauplatz”, ein räumlich in größerem Umfang beschränktes Gebiet auf operativer bis strategischer Ebene, verwendet wird.

Zeitsprung ins Heute. Nun ist in den USA die MDA mit Entwicklung, Tests und der Vorbereitung der Stationierung von Raketenabwehrsystemen betraut. Die größten Sorgenkinder sind der Iran, Nordkorea und jetzt eben auch Russland.

@EPA (KCNA)
Demonstrativer Massenstart ballistischer Kurzstreckenraketen in Nordkorea.

Klassifizierung ballistischer Raketen
Raketen zählen zu den ältesten Fernkampfwaffen der Menschheit. Dokumentiert ist ihr Einsatz als Waffe auf einem Gefechtsfeld schon im 13. Jahrhundert (wohl um 1232) bei einem chinesischen Angriff auf die von Mongolen gehaltene Stadt Kaifeng im heutigen China.

In den Kriegen zwischen dem südindischen Sultanat Mysore und den Briten sowie deren lokalen Verbündeten Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts setzten die Mysorer kleine tragbare Raketen ein, die unter den Gegnern schlimm wüteten. Sie flogen einige hundert Meter bis vielleicht zwei Kilometer, bestanden aus einer pulvergefüllten Metallröhre und einem Bambusrohr als Leitstab, waren mit Messern oder Klingen an der Spitze bestückt und wurden im Idealfall massenhaft abgefeuert, so wie heutige Mehrfach-Feldraketenwerfer (Stalinorgel). Die Briten unterwarfen bis 1799 dennoch Mysore und begannen aufgrund dieser Erfahrungen ihrerseits mit einem Raketenbauprogramm.

Ballistische Raketen sind solche, bei denen irgendwann im Lauf der Startphase der Antrieb aussetzt, und die den Rest des Weges (den Großteil des Gesamtfluges überhaupt) dann antriebslos aufgrund des bis dahin erzielten Schwungs zurücklegen, wobei sie grundsätzlich eine Bahn beschreiben, die einer physikalisch determinierten, vorhersagbaren Kurve beziehungsweise Wurfparabel folgt. So wie ein Ball, den man nur kurz beim Wurf oder Stoß beschleunigt, und der danach eine Wurfparabel – eine ballistische Kurve – beschreibt. Sie können durch Hilfsmittel wie Steuerflächen und kleine Steuerdüsen nach der Startphase, speziell beim Endanflug zum Ziel, durchaus begrenzte Kursänderungen durchführen. Das geschieht aber ohne weitere Zündung eines Hauptantriebs, der in Flugrichtung wirkt.

@NASA
Spätere Darstellung des Einsatzes von Mysorer Raketen gegen englische Truppen anno 1780 – Repoduktion eines Gemäldes von Charles H. Hubbell (1898-1971)

Es gibt solche Raketen in Reichweiten von wenigen Kilometern bis zu globalen Distanzen. Jene, die hier für uns von Interesse sind, lassen sich in vier Klassen unterteilen. Es gibt sie landgestützt sowie auf Schiffen und U-Booten seegestützt:

  • Ballistische Kurzstrecken-Raketen (Short-Range Ballistic Missile/SRBM) mit Reichweiten ab 300 bis 1.000 Kilometer mit Gesamtflugzeiten von drei bis zehn Minuten.
  • Mittelstreckenraketen (Medium-Range Ballistic Missile/MRBM) mit Reichweiten ab 1.000 bis 3.500 Kilometer; Flugzeit zehn bis 20 Minuten.
  • Langstrecken- beziehungsweise Mittelstreckenraketen größerer Reichweite (Intermediate-Range Ballistic Missile/IRBM) mit Reichweite ab 3.500 bis 5.500 Kilometer; Flugzeit um die 20 Minuten und etwas darüber.
  • Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missile/ICBM), Reichweite mehr als 5.500 Kilometer, möglich sind durchaus 15.000 Kilometer, Flugzeit bis etwa 30 Minuten.

Von U-Booten gestartete ballistische Raketen werden in Bausch und Bogen unabhängig von ihrer Reichweite SLBM (Submarine Launched Ballistic Missile) genannt, während ICBM praktisch immer für landgestützte Interkontinentalraketen steht. Für die USA und Frankreich beispielsweise sind strategische U-Boote heute der wichtigste Pfeiler der „nuklearen Triade” (U-Boote, Bomber, landgestützte Atomraketen), für Großbritannien sogar der einzige, während etwa China, Russland und Indien großteils landgestützte Raketen besitzen.

Landgestützte ballistische Raketen sind häufig auf riesigen Transportfahrzeugen untergebracht (so wie etwa schon immer die Scud-Serie) und von dort aus startbar – sogar Interkontinentalraketen, etwa die russische Topol (Nato-Code: SS-25 Sickle). ICBM waren im Kalten Krieg lange ausschließlich in gewaltigen Bunkern („Silos”, siehe Bild oben) stationiert, die samt ihren Insassen unter Umständen sogar Explosionen von Wasserstoffbomben in der näheren Umgebung – nicht aber Volltreffer – überstehen konnten.

@Pinterest
Schema eines klassischen unterirdischen ICBM-Startplatzes in den USA mit Zugangsbereich (Mitte) und Kommandobunker (li.), diesfalls mit einer Titan-II-Rakete (im Dienst 1963 bis Mitte der 1980er-Jahre).

Um die Zerstörung dieser ICBM, die in Bunkern unbewegliche Ziele waren, zu erschweren, bauten UdSSR und USA in den 1980er-Jahren auch mobile Systeme basierend auf Zügen oder Transportfahrzeugen. Dieses Konzept hielt sich bei den Amerikanern aber nicht, deren 1984 begonnenes Projekt „Midgetman” wurde nach zwei Testschüssen 1992 beendet. Das war dem Zusammenbruch des Ostblocks zu schulden, den unerwartet hohen Kosten und der prinzipiellen Entscheidung, Atomwaffen eher im Meer denn an Land unterzubringen.

Silos mit tödlichem Inhalt
Die ICBM der USA heute (Typ Minuteman-III, zuletzt etwa 431 Stück mit 481 Gefechtsköpfen beziehungsweise „Warheads”) sind in über die Landschaft verstreuten Silos samt Unterstützungseinheiten in den nördlichen Präriestaaten Wyoming, North Dakota, Nebraska, Montana und Colorado untergebracht. Auf dem Gelände der Vandenberg Air Force Base an der schönen Küste Kaliforniens zwischen Los Angeles und San Franciso indes befindet sich ein Testgelände, von wo aus Raketen wie die Minuteman (der Name stammt von schnell – „binnen Minuten” – einsatzbereiten Siedlermilizen, die schon zur Zeit der englischen Kolonien in Nordamerika gegründet worden waren) gestartet werden. Gleich daneben ist der „Minuteman Beach”, man erkennt das gut auf der folgenden Ansicht von Google Maps, sofern das Bild auf „Satellit” gestellt wird. Auch die richtigen Minuteman-Silos in den Präriestaaten lassen sich übrigens über diese Software leicht erkennen.

Flugphasen ballistischer Raketen
Die MDA hat die Flugphasen dieser Objekte in drei Segmente geteilt, von denen jede unterschiedliche Vor- und Nachteile bei der Bekämpfung einer Rakete besitzt.

In der Startphase würden sie an sich das beste Ziel bieten. Der Raketenmotor der ersten Stufe brennt mit riesiger Flamme, die Rakete bietet mitsamt etwaiger weiterer Stufen (häufig bis zu drei), Motoren und vollen Tanks eine extrem gute Signatur für alle möglichen Sensoren. Etwaige Mehrfachgefechtsköpfe und Täuschkörper befinden sich alle noch zusammen in der Rakete. Schlägt man jetzt zu, erwischt man das ganze Paket. Allerdings ist der Handlungsspielraums extrem kurz: Binnen drei bis fünf Minuten beschleunigen die Raketen je nach Typ und Reichweite auf rund vier bis acht Kilometer pro Sekunde (14.000 bis 28.000 km/h) und erreichen Höhen von mehr als 100 bis 400 Kilometern.

NATO-Norderweiterung um Schweden & Finnland?

Die Flugphase im All bietet ein kleineres und hochfliegendes, dafür relativ langsames Ziel. Die Raketenstufen sind ausgebrannt und abgeworfen, jetzt ist nur noch der Gefechtskopf aufgrund der ihm verliehenen kinetischen Energie und Bahn antriebslos unterwegs. Im Fall von MIRV stecken mehrere Gefechtsköpfe zeitweise noch auf einer Art Steuer-Endstufe („Bus”), die jeden einzelnen Kopf ausrichtet und auf seine Bahn losschickt. Die Köpfe und eventuelle Täuschkörper steigen, langsamer werdend, jetzt auf 200 bis 1.200 Kilometer, bevor sie am Scheitel der Parabel von der Schwerkraft angezogen wieder Richtung Erde fahren und beschleunigen. Entsprechend ausgerüstete Gefechtsköpfe können mit relativ wenig Energie aus kleinen Triebwerken in dieser Flugphase noch ihre Bahn um einige wenige Grad beeinflussen.

Die Wiedereintrittsphase bietet ein kleines und extrem schnelles Ziel. Vor dem Eintritt in die Atmosphäre können mit Hilfe der Lagekontrolltriebwerke automatische zufällige Ausweichmanöver geflogen werden, um die Abwehr zu verwirren. Asymmetrisch geformte Gefechtsköpfe können mittels Impulsen aus Steuertriebwerken aerodynamische Effekte nutzen und ihre Bahn auch noch beim Flug durch die Atmosphäre beeinflussen, ja fast schon Haken schlagen.

Man könnte ballistische Raketen auch schon vor dem Start angreifen, in der Stationierungs- oder Prä-Startphase. Durch Bomber etwa, Marschflugkörper, eigene ballistische Raketen sowie durch Kriegsschiffe und U-Boote, wenn es um SLBM geht. Das wird im Rahmen von tief im Hinterland stationierten Raketen aber nur im Rahmen eines offensiven Einsatzes, unter Umständen eines Erstschlags, möglich sein, und die Frage ist, ob zu der Zeit schon offener Krieg herrscht oder nicht. Dabei hängen die Wahl der Waffen sowie die Erfolgschancen auch stark von der Größe des feindlichen Landes und der in seinem Luftraum zu passierenden (Luft)Verteidigung ab, ob verbunkerte Systeme überhaupt knackbar sind und man die Aufklärungskapazitäten hat, um mobile Raketenstarter verfolgen zu können. Aber das ist eine andere Geschichte.

Sackgasse: Fliegender Laser
Ein letztlich fehlgeschlagenes Projekt, um Raketen in der Startphase zu bekämpfen, waren fliegende Laserplattformen, etwa der Boeing YAL-1 Airborne Laser. An Bord eines Boeing 747-400F-Frachtflugzeuges wurde ein hochenergetischer Laserstrahl erzeugt, der über eine drehbare Kuppel an der Nase verschossen wurde. Das darf man sich nicht wie in Science-Fiction-Filmen vorstellen, wo ein Treffer schon zur Explosion führt, sondern der Strahl müsste über einige Sekunden exakt sein Ziel verfolgen und dort eine relativ begrenzte Stelle soweit aufheizen, dass die Hitzeeinwirkung zu Schäden und bestenfalls Zerstörungen führt.

@US Missile Defense Agency
Boeing YAL-1 Airborne Laser.

Von 2002 bis 2012 liefen die Flugversuche. Letztlich scheiterte man aber an der starken Absorption der Laserenergie durch die Atmosphäre, an der exakten Zielbeleuchtung und der Tatsache, dass nur Ziele anvisiert werden konnten, die sich in Sichtweite befanden. Das bedeutete einige hundert, vielleicht bis zu 600 Kilometer, weshalb die Einsatzmöglichkeit geografisch stark beschränkt war: Die Boeing hätte sich Raketenstartorten kaum genug nähern können, ohne zuvor bemerkt und angegriffen zu werden, und das umso weniger, je tiefer sie durch feindlichen Luftraum fliegen musste. Im Übrigen: So etwas hätte auch nur funktioniert, wenn man sehr genau den Zeitpunkt eines Raketenstarts kennt oder über sehr lange Zeit ungeschoren in Schussweite kreuzen kann, oder wenn die Feindrakete nackt, ungeschützt und sichtbar irgendwo herumsteht. Alles zusammen war die Sache zu kompliziert und der Nutzwert absehbar gering.

Nicht-Starter: Air Launched Hit To Kill (ALHTK)
Drei Millionen US-Dollar hat die US-Rüstungsagentur für Spezialprojekte DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) 2007 an den Rüstungsriesen Lockheed Martin überwiesen, um das ALHTK-Konzept (Air Launched Hit To Kill) überprüfen zu lassen. Damit hätten mit Patriots bestückte Kampfflugzeuge startende (und vielleicht ankommende) Raketen bekämpfen sollen. Viel mehr als ein pompöses Promotion-Video mit F-15-Jägern, die besagte modifizierte Patriot PAC-3-Raketen aus Containern abfeuern und damit ballistische Raketen zerstören, die „böse” Schiffe, als Frachter getarnt, gerade dicht vor der US-Küste gestartet haben, kam dabei nicht heraus.

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Beides ist in dieser Form ziemlich hoffnungslos, und zwar gerade in der Startphase: Abgesehen von der erneuten Frage, ob sich das Flugzeug dem Ziel überhaupt nähern kann und von dessen Startzeit weiß, ist die Beschleunigung einer ballistischen Rakete so groß, dass substantielle Geschwindigkeitsüberschüsse einer Abfangrakete, wenn diese erst von unterhalb der Zielrakete oder in einer vergleichbaren Höhe gestartet wird, faktisch nicht zu erreichen sind.

Schon die Anwendung der Raketengrundgleichung des Begründers der modernen Raumfahrt, Konstantin Tsiolkowski (1857-1935), legt nahe, dass realistische Kombinationen aus Startmasse, Nutzlast und dem spezifischen Impuls anwendbarer Treibstoffe und Triebwerke für eine Abfangrakete, die eine ballistische Rakete beim Start einholen will, auf Basis der aktuellen Technologie nicht zu verwirklichen sind.

Einsatzbereit: Die Patriot PAC-3
Das Conclusio des Patriot-Einsatzes bei Desert Storm 1991, wonach nur ein direkter Treffer Erfolg verspricht, führte zu neuen Überlegungen bei der Gestaltung des Wirkmechanismus der Patriot. Als ersten Schritt gab es in den 1990er-Jahren Softwareänderungen und einen reaktionsschnellen Annäherungszünder. Dann wurden in mehreren Stufen die verbesserte und kleinere Patriot PAC-3 Rakete sowie neue Radargeräte und eine systemübergreifende Datenvernetzungsfähigkeit eingeführt.

@NATO Multimedia Library
Das Patriot-System kommt heute bei zahlreichen Streitkräften weltweit zum Einsatz.

Dank geringeren Raketendurchmessers kann ein Patriot-Starter statt vier PAC-2 nun bis zu 16 PAC-3 Raketen mitführen. Statt mehr als 900 Kilogramm bei der PAC-2 wiegt die PAC-3 nur noch knapp über 300 Kilogramm. Der mehr als 90 Kilogramm schwere Druck/Splitter-Gefechtskopf der PAC-2 wurde ersetzt durch wesentlich kleinere und leichtere Köpfe. Dazu kamen 180 kleine Feststoffdüsen im Vorderbereich der Rakete, mit der sie im Endanflug fein dosierte Manöver ausführen kann; sie wird so in der dünnen Höhenluft leichter steuerbar als mittels herkömmlicher aerodynamischer Steuerflächen.

Trotz allem bleibt Patriot ein System, das hauptsächlich zur Flugzeugabwehr konzipiert ist und im wesentlichen nur anfliegende ballistische Kurzstreckenraketen bei deren Wiedereintritt innerhalb der Atmosphäre in Höhen bis 15 Kilometer bekämpfen kann. Der Einsatzradius der PAC-3 beträgt auch nur etwa 20 Kilometer. Die neueste und reichweitengesteigerte Variante PAC-3 MSE (operativ seit 2016) soll auf mindestens 36 Kilometer steigen und Mittelstreckenraketen abfangen können, hat aber auch nur einen Einsatzradius von etwa 35 Kilometern.

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Terminal High Altitude Area Defense (THAAD)
Im Bewusstsein der Einschränkungen des Patriot-Systems wurde schon 1991 die Entwicklung eines anderen und richtig weitreichenden mobilen Abwehrsystems unter dem Titel THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) in Auftrag gegeben. Ebenso wie bei Patriot ist bei THAAD die Technik auf mehreren Lkw untergebracht, jeweils Radar, Starter, Kommandozentrum, Kommunikationsequipment, Stromgenerator und Zubehör auf separaten Fahrzeugen. THAAD kann tatsächlich keine Flugzeuge bekämpfen, ist aber optimal gegen anfliegende Gefechtsköpfe ballistischer Raketen mit Reichweiten von 1.000 bis 5.500 Kilometer konfiguriert, die sie sich noch im All in Höhen von 100 bis 150 Kilometer und in einem Radius von bis zu 200 Kilometer vornimmt.

Die mehr als sechs Meter lange Rakete wiegt rund 900 Kilogramm und beschleunigt ein zwei Meter langes Objekt namens „Kinetic-Kill-Vehicle” aus Metall auf über Mach 8 (2,4 km/s). Außerhalb der Atmosphäre wird die schützende Hülle über diesem „Hammer” abgestoßen, die insbesondere dessen empfindlichen Infrarotsuchkopf, mit der er sein Ziel selbst sucht, vor den Belastungen beim Überschallflug durch die Luftschichten schützt.

@API Army
Ein THAAD-Starfahrzeug und ein T2C2-Knoten (Transportable Tactical Command Communications), die am Rota International Airport in Rota, CNMI, stationiert sind.

Nach Abtrennung von der Rakete wird das Kill-Vehicle gedreht, damit sein Sensor ein Ziel erfassen kann. Die Elektronik errechnet den Kurs und optimalen Abfangpunkt sowie die Steuerimpulse, worauf das Gefährt mit kleinen Motoren seine Flugbahn justiert. Das gewünschte und einzig wirksame Ergebnis ist ein direkter Zusammenstoß mit dem gegnerischen Gefechtskopf. Die dabei freiwerdende kinetische Energie ist, bei erwartbaren Begegnungsgeschwindigkeiten von fünf Kilometern pro Sekunde und mehr, so hoch, dass Explosivstoff unnötig ist.

Die erste THAAD-Batterie mit drei Werfern und gesamt 24 Raketen wurde 2008 in Texas aufgestellt. Um THAAD, seine Fähigkeiten und Standorte herrscht große Geheimniskrämerei, zuletzt waren solche Raketen in Alaska (Kodiak Island), auf der westpazifischen Insel Guam mit dem großen US-Stützpunkt dort und in Südkorea stationiert – wegen letzterem gab es Proteste seitens Chinas.

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Standard Missile 3 (SM-3)
Zwei Drittel der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt, der größte Teil davon sind internationale Gewässer. Grund genug, dass auch die US Navy in die Abwehr ballistischer Raketen eingebunden wurde. An Bord der 64 aktiven Zerstörer der Arleigh Burke-Klasse sind je 96 Waben-artige Startzellen, an Bord der 22 Ticonderoga-Klasse-Kreuzer je 122 Startzellen, die grundsätzlich auch für den Start sogenannter Standard Missiles (SM) des Herstellers Raytheon kompatibel sind. Von diesen an sich schon seit den 1960er-Jahren eingeführten, vielfach modernisierten Waffen gibt es mehrere Varianten, die teils auch gegen Schiffe einsetzbar sind.

Allerdings sind die Raketenbatterien der US-Kriegsschiffe mit einem Mix an Raketen bestückt: Mit Anti-Schiff-Raketen, raketengestarteten Anti-U-Boot-Torpedos, Cruise-Missiles, Luftabwehrraketen diverser Typen und eben auch Standard Missiles, von denen die Variante SM-3 (auch genannt RIM-161 SM-3) am dezidiertesten gegen ballistische Raketen entwickelt wurde, die sie durch ein infrarotgelenktes Kinetic-Kill-Vehicle zerstört.

@NATO Multimedia Library
Start einer Standard Missile-3 von einer Aegis-Fregatte.

Die SM-3 ist momentan nicht nur der mobilste, sondern auch beste Abfänger ballistischer Raketen. Mit 1,5 Tonnen Masse bei 6,55 Meter Länge befördert sie durch drei Feststoffstufen einen kinetischen Aufprallkopf von rund 100 Kilogramm Masse auf Geschwindigkeiten von Mach zehn bis 15 (3 km/s bis 4,5 km/s). In der letzten halben Minute sorgen kleine Steuerdüsen, die Gas austoßen, für Kurskorrekturen. Möglich sind Abfanghöhen zwischen 600 Kilometern bis knapp 1.000 Kilometern bei richtig großen Radien von 700 bis 2.500 Kilometern.

Während der langen Testphase in den 2000er-Jahren sollen SM-3 eine Trefferwahrscheinlichkeit von mehr als 80 Prozent erreicht haben. Das System ist unterm Strich der mit Abstand wichtigste und häufigste westliche Player bei der Abwehr ballistischer Raketen auch auf globaler Ebene. Es kann sie in ihrer Flug- und Wiedereintrittsphase bekämpfen, und zwar fast im ganzen Spektrum ballistischer Raketen von der Kurzstrecken- bis zur Interkontinentalwaffe. Ein Schuss kostet aber auch immerhin zehn bis 15 Millionen Dollar (rund neun bis 13 Millionen Euro).

Aegis Ashore
Das selbe Raketenabwehrsystem ohne Schiffsrumpf rundherum existiert heute in Europa als Aegis Ashore. 2011 vereinbarten die USA und Rumänien die Errichtung eines Raketenabwehrsystems im Rahmen des European Phased Adaptive Approach (EPAA) im rumänischen Deveselu. 400 Millionen US-Dollar (380 Millionen Euro) flossen in die Errichtung. Die Anlage besteht aus einem Decksaufbau mit vier AN/SPY-1 Radaranlagen sowie drei Mk 41 VLS Modulen mit je acht Zellen und wird von 200 Soldaten betrieben, 2016 wurde die Einsatzbereitschaft erreicht. An einem gleichwertigen System wird in Polen am Standort Redzikowo gebaut. Zwei mal verzögert soll es heuer fertig gestellt werden.

@US Navy/Lt. Amy Forsythe
Im nordpolnischen Redzikowo wird aktuell eine Komponente des US-Raketenabwehrsystems Aegis Ashore fertiggestellt, die Ende 2022 einsatzbereit sein wird.

Ground-Based Interceptor (GBI)
GBI wiederum, führend erzeugt von Boeing und Raytheon, ist ein weiteres US-System gegen ballistische Raketen, im Grunde eine landgestützte Fortführung der regional verteidigenden ABM-Systeme des Kalten Kriegs sowie ein Nachhall von SDI, doch ohne nuklare Sprengköpfe. Momentan sollen es 44 Raketen in Silos sein, die in Alaska und Kalifornien unterirdisch angelegt wurden. Jede Rakete wiegt 21,6 Tonnen bei mächtigen 16,6 Meter Länge und einem 64 Kilogramm wiegenden Kill-Vehicle an der Spitze.

Sowohl die Stationierungsorte als auch die Leistung der Rakete, welche Endgeschwindigkeiten von bis zu zehn km/s erreicht, zeigen, dass sie nur zur Verteidigung Nordamerikas gegen Interkontinentalraketen-Gefechtsköpfe vorgesehen ist: Im Mai 2017 hat eine GBI laut Raytheon erstmals bei einer Übung einen solchen über dem Pazifik vernichtet. Die zuvor etwa 24 Tests des Systems, an dem schon seit den 1990er-Jahren gebaut wurde, waren vom Ergebnis her allerdings durchwachsen.

@Lockheed Martin
Ein Ground-Based Interceptor wird in Alaska in sein Raketensilo abgesenkt.

Da pro anfliegendem Gefechtskopf zumindest zwei GBIs gestartet werden – das gilt übrigens für Patriot PAC-3, THAAD und SM-3 genau so und hat den Zweck, die Trefferchance zu erhöhen – haben die 44 Raketen im Rahmen der globalen Abschreckung eine vernachlässigbare Rolle. ICBMs etwa der Russen, neuerdings auch der Chinesen, tragen mitunter, oder regelmäßig, MIRVs, also mehrere Sprengköpfe, und schon mit einem halben Dutzend Raketen wäre der GBI-Schild durchschlagen.

Wie man die Ziele erfasst
Zur möglichst frühen Erfassung von Raketenstarts betreiben mehrere Staaten Satelliten mit Infrarotdetektoren, teils in geostationären Orbits (36.000 Kilometer Höhe), teils in hochelliptischen Orbits, auf denen sich die Satelliten in wechselnden Abständen zwischen etwa 35.000 bis 40.000 Kilometer und weniger als 1500 bis zu einigen hundert Kilometern Höhe bewegen (siehe Grafik unten). Die Satelliten bemerken die Hitze beim Start und liefern die Grundlagen für alles weitere, so auch für die Erfassung der Rakete durch Radar.

@ArchivWeltweit gibt es mehrere große stationäre Radarsysteme zur Verfolgung von Raketen ab der späten Startphase. Die USA unterhalten das PAVE PAWS-Netzwerk bestehend aus fünf Anlagen, drei davon in den USA, eine in Grönland, eine in England. Damit kann man von jeder Anlage aus etwa fünfeinhalbtausend Kilometer weit „blicken”, bis weit hinaus über den Pazifik, den Atlantik, die ganze Nordpolregion bis ins nördliche Sibirien, über ganz Europa inklusive des europäischen Teil Russlands, die Türkei, Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas.

Bei den einzelnen Abwehrsystemen wie Patriot und THAAD sind eigene Radars Systembestandteil, bei Schiffen mit Standard Missiles ist das an Bord verbaute Warn- und Feuerleitsystem Aegis Teil davon. Dadurch werden die Abfänger ans Ziel heran oder in es hinein geführt – wobei letzteres, die Steuerung der Endphase, bei einigen Systemen durch Infrarotsuchköpfe geschieht.

@navy.mil
Sieht spektakulär aus und ist es auch – das schwimmende SBX-Radar.

Das schwimmende Auge
Eine weitere riesige Radaranlage ist das Sea-Based X-Band Radar (SBX) – eine schwimmende Radarstation der USA, die in der Regel vor Alaska liegt und je nach Weltlage platziert werden kann, um Zieldaten zu liefern. Das immerhin 900 Millionen Dollar (855 Millionen Euro) teure Objekt, das über größere Entfernungen von Frachtschiffen huckepack getragen wird, hat ein 2.400 Tonnen schweres Aktives Phased-Array-Radar – einfach gesagt: Das Schwenken der Radaremissionen über den Himmel erfolgt nicht durch mechanische Bewegungen von Sendern oder Schüsseln, sondern durch komplizierte elektronisch-physikalische Vorgänge, die mit Phasenverschiebungen der elektromagnetischen Wellen zu tun haben und bei denen sich sichtbar nichts bewegt. Phased Arrays sind auch bei modernen Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen und bodengestützter Lufraumüberwachung zu finden.

Die gigantische Apparatur hat eine Radarantennenfläche von 248 Quadratmetern und kann angeblich tennisballgroße Objekte in 4.500 bis 5.000 km Entfernung verfolgen. Das Grundgerüst des schwimmenden Fahrzeuges ist dabei eigentlich eine selbstfahrende Ölbohrplattform, die für einen norwegischen Konzern just in Russland gebaut und später von Boeing erworben wurde.

GeoTalk #20: Welche Waffen helfen der Ukraine nun?

Länder mit Raketen-Abwehrkapazitäten
Neben den USA gibt es auch im Rahmen der Nato ein Programm zur Abwehr ballistischer Raketen, in das landgestützte Patriots sowie see- und landgestützte SM-3 der USA sowie mehrerer europäischer Streitkräfte eingebunden sind. Darüber hinaus haben Indien, Israel, China, Russland, Japan, Taiwan, Südkorea, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudiarabien Abwehrraketen bereits im Arsenal, die teils selbst enwickelt, teils importiert wurden.

Aster 30 EADS
Die von einem europäischen Konsortium entwickelten Aster-Flugabwehrraketen haben in ihrer Variante Aster 30 begrenzte ABM-Tauglichkeit gegen Kurzstreckenraketen wie Scuds mit Schusshöhen von um die 20 Kilometer. Sie sind derzeit auf französischen, britischen und italienischen Schiffen, eine deutlich verstärkte und höherfliegende Variante ist in Entwicklung.

In Planung ist seit mehr als einem Jahrzehnt das Medium Extended Air Defense System (MEADS), ein allgemeines Flugabwehrsystem mit Fähigkeiten gegen Kurzstreckenraketen, das Fla-Waffen wie Roland, Hawk und teilweise Patriot ablösen soll. Dabei dient eine kampf- und reichweitengesteigerte Patriot-Rakete (PAC-3 MSE) als Geschoss. Beteiligt sind die USA, Deutschland und Italien, Frankreich stieg aus. Es gab Verzögerungen und Probleme, vor allem politischer Natur in Deutschland. Mittlerweile ist das Projekt auf Kurs und die Einführung von MEADS in Deutschland in den 2020er-Jahren absehbar, wobei es auch die Raketen vpm Typ Iris-T SL der deutschen Firma Diehl Defence verfeuern soll.

Erhält die Ukraine nun auch F-16-Kampfjets?

Wenn man es wirklich genau wissen will muss man in Israel fragen
Hunderte Milliarden US-Dollar und vergleichbare Beträge in anderen Währungen flossen über Jahrzehnte in die Forschung, Entwicklung, Fertigung und den Betrieb von Raketenabwehrsystemen. Viel davon, aber nicht alles, wird schlicht verpulvert worden sein. Gewisse Fähigkeiten im Ernstfall muss man den Organisationsstrukturen und der Technik aber schon zugestehen, auch wenn nicht jeder Testschuss ein Erfolg war.

Die Realität lässt sich jedoch nicht hinreichend simulieren. Eigentlich hat seit dem Golfkrieg 1990/91 nur Israel praktische Erfahrung mit dieser Art von Bedrohung, diesfalls aber durch kleine, meist händisch gebaute Kurzstreckenraketen sowie Mörsergranaten der Palästinenser und der libanesischen Hamas.

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Das System Iron Dome etwa sammelt seit 2011 Einsatzerfahrung bei der Abwehr solcher Geschosse mit Reichweiten von etwa fünf bis 70 Kilometern. Tatsächlich wurden schon mehrere hundert davon im Flug zerstört, die Trefferchance soll bei 75 bis 90 Prozent gelegen sein – wobei Iron Dome aus pragmatischen Gründen automatisch solche Geschosse nicht attackiert, die laut Bahnprognose unbewohntes Gebiet treffen.

Iron Dome ist inzwischen vielfach fefechtserprobt. Die Bilder von den Einsätzen des Systems sind beeindruckend und furchterregend zu gleich. Es ist praktischer Anschauungsuntersicht des „Salvenmodells” – dabei werden vom Angreifer möglichst viele Raketen in möglichst kurzer Zeit gestartet um das Verteidigungsystem zu überlasten.

Zuletzt hat Israel entscheidende technische Fortschritte bei Bau eines Laser-Systems zur Abwehr von Drohnen und kleinen Flugkörpern verkündet: Iron Beam.

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Aber auch gegen Angriffe mit größeren Raketen ist Israel gut gewappnet. Organisiert unter der „IMDO Israel Missile Defense Organization” betreibt man ein vierschaliges System. Das beschriebene Iron Dome bildet die unterste Ebene gegen Boden-Boden-Raketen kurzer Reichweite. Darüber ist das System David’s Sling in der Lage Boden-Boden-Raketen mit kurzer bis mittlerer und mittlerer bis langer Reichweite abzufangen. Ebene 3 bildet das System Arrow-2 gegen Mittel- bis Langstreckenraketen. Das leistungsfähigste System Arrow-3 kann auch Ziele ausserhalb der Atmosphäre und somit auch ICBMs treffen.

Deutschland überlegt „Raketenschutzschild”
Die Bundesregierung prüft im Zug des Ukraine Kriegs nun die Beschaffung eines sogenannten „Raketenschutzschilds”. Das System Arrow-3 ist der wahrscheinlichste Kandidat. In einem Interview mit Götz Neuneck mit der Deutschen Welle wird aber auch schnell klar wie komplex und vielfältig Luftbedrohungen sind.

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Bedrohungen durch ICBMs konnten bisher nur simuliert werden. Solche Tests werden Monate im voraus geplant, die Szenarien wirken real, Manöver mit Raketen langer Reichweite werden von den USA in der Regel über dem Pazifik durchgeführt. Trotzdem: Die Zeitfenster für Zielentdeckung, Bahnberechnung, Entscheidung für oder gegen einen Abfangeinsatz und letztlich dessen Durchführung sind teuflisch kurz – das Warten auf einen echten Angriff hingegen endlos lang. Ob man, rein menschlich gesehen, einen hohen Bereitschaftsgrad mit klarem Kopf und hoher Reaktionsgeschwindigkeit permanent aufrechthalten kann, ist fraglich.

Ebenso fraglich ist, ob die Systeme mit der rasend schnellen Entwicklung neuer Arten von Lenkwaffen mithalten können – die Hyperschall-Lenkflugkörper stehen praktisch schon in der Tür. Das Risiko, dass solche Raketen-Abwehrsysteme rasch obsolet werden, kann nicht ausgeschlossen werden.

Hinweis: Dieser Artikel erschien in einer Erstfassung als Zusammenarbeit von Martin Rosenkranz und Wolfgang Greber im Jahr 2017 auf der Webseite der Tageszeitung „Die Presse”. Er wird mit Genehmigung hier veröffentlicht und wurde auf die aktuellen Ereignisse adaptiert. 

Quelle@NATO Multimedia Library, US Navy/Lt. Amy Forsythe, Archiv, MBDA, White House Photo Office, Public Domain, NASA, Pinterest, EPA (KCNA), US Missile Defense Agency, API Army, Lockheed Martin, navy.mil
Martin Rosenkranz (geboren 1968 in Wien) ist Journalist und Autodidakt für Luftfahrt-, Militär- und Technologiethemen. Er war Chefredakteur des Luftfahrtportals www.airpower.at. Hat viele Jahre die Ausschreibung und Beschaffung der Eurofighter Typhoon sowie die Nachwehen journalistisch begleitet, militärischen Verbänden und Rüstungsunternehmen im In- und Ausland besucht und war bei Fachseminaren eingeladen.