Die Vorgehensweise von Boko Haram hat sich geändert. Die nigerianische Terrororganisation setzt nun anstelle von offenen Kämpfen vermehrt auf Attentate und Bombenanschläge. Das erfordert auch von den Truppen der Afrikanischen Union eine andere Strategie.

Die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram ist spätestens seit der Entführung von mehr als 200 Mädchen aus einer Schule in Chibok im April 2014 international bekannt. Das mediale Interesse an der Situation in Nordnigeria ebbte aber genauso schnell wieder ab, wie sich zuvor das Engagement prominenter Persönlichkeiten zur Rettung der Mädchen aufgebaut hatte. Mit dem Treueeid auf den Kalifen des sogenannten Islamischen Staates (IS) hat Boko Haram zuletzt in den internationalen Sicherheitsdiskursen aber neue Bedeutung erlangt. Mittlerweile haben mehrere Nachbarstaaten, die von den Aktivitäten der Terrorgruppe ebenfalls betroffen sind, in den Konflikt eingegriffen. Angaben internationaler Organisationen und NGOs zufolge sollen bei den Kämpfen bislang knapp 20.000 Menschen getötet worden sein. 2,5 Millionen Menschen wurden vertrieben und leben nun als Flüchtlinge.

Seinen Ursprung hat der Konlikt im Jahr 2009, als Boko-Haram-Chef Muhammad Yussuf in Polizeigewahrsam getötet wurde. Seitdem hat sich die Lage unter der Führung von Abubakar Shekau zunehmend verschärft, die Angriffe auf Einrichtungen von Sicherheitskräften haben zugenommen. Waren es zu Beginn Bombenanschläge und Überfälle mit Motorrädern, war die Gruppe schon bald in der Lage, sowohl Militär als auch Polizei erfolgreiche, mehrstündige Gefechte zu liefern. Je intensiver das nationale und internationale militärische Vorgehen gegen Boko Haram allerdings wird, desto größer erscheint die Wahrscheinlichkeit, dass die Terrorgruppe wieder vermehrt zu Attentaten und Bombenanschlägen zurückkehren wird. So setzt Boko Haram seit dem Jahreswechsel 2014/2015 etwa verstärkt auch Mädchen als Selbstmordattentäterinnen ein. Sie sind oft nicht älter als zehn Jahre.

Die Bewaffnung der Gruppe hat sich über die Jahre verändert und wurde an die Erfordernisse der jeweiligen Taktik angepasst. Die Herkunft der Waffen dürfte sich aus verschiedenen Quellen speisen – wobei die nigerianische Armee eine davon ist. Immer wieder gelingt es Boko-Haram-Kämpfern im Zuge von Angriffen schwere Waffen, gepanzerte Fahrzeuge, Pick-ups und Munition aus den Beständen der Streitkräfte zu erbeuten. Nicht nur für externe Beobachter stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Gerät tatsächlich von den Rebellen erbeutet wurde oder dessen Verlust nicht vielmehr ein Euphemismus für mögliche Geschäfte von Angehörigen der Streitkräfte mit Boko Haram ist.

Ein wesentlicher Grund für das Erstarken und den anhaltenden Erfolg von Boko Haram ist laut dem tschadischen Präsidenten Idris Déby Itno die mangelnde Koordination zwischen den betroffenen Staaten. Tatsächlich wurde die Regierung Nigerias erst unter dem Druck der Nachbarstaaten tätig. So gingen Kamerun, besonders aber Tschad und Niger, nicht nur auf eigenem Terrain, sondern auch auf nigerianischem Staatsgebiet militärisch gegen Boko Haram vor – und das teilweise mit großer Härte. Am 29. August 2015 wurden im Tschad beispielsweise zehn Männer hingerichtet, die für Anschläge in der Hauptstadt N’Djamena im Juni des selben Jahres verurteilt worden waren. Bemerkenswert: Die Todesstrafe für terroristische Aktivitäten hatte der Tschad erste einen Monat nach diesen Attacken wieder eingeführt.

Eine internationale Truppe der Afrikanischen Union (AU) konnte während der vergangenen Monate einige Erfolge aufweisen. Einfach wird die Lösung des Konflikts trotzdem nicht. Im Gegenteil, es dürfte schwierig sein, Boko Haram nachhaltig zu bekämpfen, solange sich die ökonomischen und ökologischen Bedingungen für die Menschen in Nordnigeria nicht ändern. Die Austrocknung des Tschad-Sees, der für viele Menschen die Lebensgrundlage darstellt, ist nur eines von mehreren Problemen, die das Erstarken der Terrorgruppe begünstigen. Zudem erschweren die komplexen ethnischen und religiösen Beziehungsgeflechte in der Region eine rasche Aussöhnung. Hochrangige nigerianische Offiziere halten eine militärische Lösung überhaupt für unmöglich, oder wie es der ehemalige Generalstabschef Martin Luther Agwai in einem Interview mit der Zeitung The Guardian formulierte: „It is a political issue; it is a social issue; it is an economic issue, and until these issues are addressed, the military can never give you a solution.“

Text: Gerald Hainzl

 

Brigadier Walter Feichtinger ist seit 2002 Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) an der Landesverteidigungsakademie.
Brigadier Walter Feichtinger ist seit 2002 Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) an der Landesverteidigungsakademie.

Kommentar von Brigadier Walter Feichtinger: Das Chaos nützt den Terroristen

Die Terrororganisation Islamischer Staat hat nun auch in Nigeria in Gestalt der Boko Haram einen Ableger, der sich zum Kalifat bekennt und einen Treueeid auf den selbsternannten Kalifen, Abu Bakr al-Baghdadi in Syrien, abgelegt hat. Dazu kommt der IS in Libyen, der sich das Chaos im Lande infolge des Bürgerkriegs ab Sommer 2014 und der bislang gescheiterten Friedens-bemühungen rasch zunutze gemacht hat. Da die Angriffe auf den IS in Syrien und im Irak bislang nicht von Erfolg gekrönt waren, muss man sich sowohl im Westen wie auch in der arabischen Welt vermehrt darauf einstellen, dass die Terrororganisation noch länger ihr Unwesen treiben und nach Expansionsmöglichkeiten suchen wird.

Dabei sind drei Voraussetzungen auszumachen, die es dem IS oder vergleich- baren Terrorgruppen ermöglichen, Fuß zu fassen und ihr Unwesen zu treiben. Zum Ersten sind es dysfunktionale Staatsführungen, die Teile der Bevölkerung bewusst ausgrenzen, marginalisieren oder sogar terrorisieren. Dies führt zu Enttäuschung, Frustration oder offenem Widerstand und erzeugt Sympathien für radikale Lösungsansätze – so beispielsweise im Irak, wo die Sunniten nach der Machtübernahme der Schiiten systematisch an den Rand und somit ins Lager der al-Kaida und des IS gedrängt wurden.

Zum Zweiten sind es schwache Regierungen, die es nicht schaffen, die staatliche Kontrollgewalt über das gesamte Staatsgebiet auszuüben, und daher unkontrollierte Regionen entstehen – das ist in Afghanistan oder Pakistan ebenso zu beobachten wie etwa in Mali oder auch Nigeria. Chaotische Zustände wie in Libyen wiederum sind ein dritter Faktor, der den Aufbau und die nachhaltige Festigung extremistischer Gruppierungen begünstigt. Je länger es daher zu keiner Annäherung zwischen den verfeindeten Regierungen in Tobruk und Tripolis kommt, desto stärker wird der IS in Libyen werden.

Diese Entwicklungen machen deutlich, warum die derzeitigen politischen Verhältnisse vielerorts Terroristen begünstigen und wie wichtig es deshalb ist, Chaos zu vermeiden und zu Verhandlungslösungen zu kommen.