In ihrem Bemühen um mehr Einfluss im Nahen Osten hat die Türkei gleich mehrfach Trittsicherheit vermissen lassen. Nahost-Experte Walter Posch sieht in diesem politischen Versagen ein Desaster mit ­weitreichenden Folgen.

Viele Jahre lang schottete sich die Türkei mit dem Kemalismus systematisch von der arabisch-islamischen Welt ab. Die anschließende Öffnung geriet ­jedoch zu einer quasi „neo-osmanischen” Außen­politik in der Region, deren Grenze sich schon bald zeigen sollte. Zwar waren die Investitionen Ankaras in der arabischen Welt ebenso willkommen wie die hochwertigen ­türkischen Produkte, für Irritationen sorgten aber die zahlreichen, im Kontext immer linkisch wirkenden, Referenzen auf das Osmanische Reich, wie sie vor allem vom jetzigen Premierminister und ehemaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu propagiert wurden.

Wenig diplomatisches und politisches Verständnis bewies Ankara auch darin, einseitig die verschiedenen Branchen der Muslimbruderschaft zu unterstützen, zu der übrigens auch die palästinensische ­Hamas zu zählen ist. So sahen einige der AKP-Regierung nahestehende Experten Ankara schon als quasi Schutz- und Führungsmacht der Muslimbrüder, die unter Mursi auch in Ägypten das politische Steuer übernahmen. Das musste die Saudis und einige der Golfstaaten hellhörig gemacht haben. Während in der Türkei offen davon geträumt wurde, den eigenen Einfluss über Syrien (zuerst mit, dann gegen ­Assad) nach Ägypten auszudehnen, reagierte das wahhabitische ­Königreich und unterstützte die säkularen Militärs gegen die islamistische Regierung. Ankara bewies in der Folge immer wieder, dass es im Sand der arabischen Wüsten genauso wenig trittsicher ist wie die Europäer – vielleicht noch weniger, wenn man die geringe Zahl arabischsprachiger türkischer Diplomaten bedenkt. Man erinnere sich an das Hin- und Her bei der Unterstützung des Angriffs auf Libyen oder den Umschwung der Beziehungen zu Syrien, schließlich an die Irakpolitik, an der man erkennen konnte, wie schwer sich Ankara mit den irakischen Schiiten tat.

Dennoch ist gerade der Irak eines der wenigen Beispiele, wo Ankara lange ausstehende Probleme konstruktiv anging. Nämlich ausgerechnet auf einem politischen Minenfeld, das noch keine bisherige Regierung zu lösen gewagt hat: bei der ­Kurdenfrage. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Normalisierung des Verhältnisses zu den irakischen Kurden erst dann gelang und diplomatisch untermauert werden konnte, als das Dossier „Nordirak” im Zuge des Machtkampfes zwischen ­Erdoğan und den Militärs im Jahr 2007 vom Generalstab in das Außenministerium zurücktransferiert wurde. Gleichzeitig wurden wichtige Aspekte der jahrzehntelangen Verleugnungspolitik den eigenen Kurden gegenüber revidiert. Aus irakisch-kurdischer Sicht ist Ankara wiederum in vielerlei Hinsicht interessant. Als Gegengewicht zu den, in den irakischen Kurdengebieten – und nicht nur dort – omnipräsenten Iranern, als Tor zum Westen und nicht zuletzt als Wirtschaftspartner.

Vor allem aber spielt die Türkei eine wichtige Rolle für den Export kurdischen Erdöls und Erdgases an den Weltmarkt. Denn unausgesprochen betreibt die kurdische Regionalregierung die wirtschaftliche und politische Abnabelung von Bagdad. Eingedenk des bisher Erreichten ist es nur verständlich, wenn Regionalpräsident Masud Barzani mit einer Schönwetterpolitik gegenüber Ankara den zukünftigen Kurdenstaat wirtschaftlich auf sichere Beine stellen will, was nur über das Leitungsnetz der Türkei möglich ist. Das wiederum schließt eine der Türkei feindliche Politik von Seiten Erbils (Hauptstadt der Autonomen ­Region Kurdistan) von vornherein aus. Gleichzeitig hat das Entgegenkommen Erbils Grenzen und ist ohne substantielle Verbesserung der kulturellen und politischen Rechte der Kurden in der Türkei nicht möglich.

Dies beinhaltet zunächst ein Ende der staatlichen Gewalt in der betroffenen Region sowie ein Niederlegen der Waffen der PKK-Guerilla. In beiden Fällen gab es Rückschläge. So wurde der notwendige Ergenekon-Prozess, in dessen Zusammenhang die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Südosten des Landes hätten aufgeklärt werden können, von der ­Regierung dazu missbraucht, alle missliebigen Stimmen mundtot zu machen und die Armeeführung einzuschüchtern. Und auf Seiten der PKK ist seit geraumer Zeit keine Rede mehr davon, die Waffen niederzulegen. Die beeindruckende Wandlung von einer in der Türkei besiegten Organisation zu einer expansiven und neu strukturierten transnationalen kurdischen Befreiungsbewegung deutet vielmehr in die ­gegenteilige Richtung. Das organisatorisch-militärische Erstarken der PKK wurde anhand ihres Ablegers PYD in Syrien deutlich. Diese erklärte im Sommer 2013 die drei kurdischen Kantone für autonom und hält seither eine Art Äquidistanz zum Baath-Regime in Damaskus und zum Großteil der Opposition, bekämpft jedoch die radikalen Islamisten. Gleichzeitig neutralisierten sie die Anhänger Barzanis in Syrien, der daraufhin die Grenze zwischen dem syrischen und irakischen Kurdistan sperren ließ. Ungefähr zur gleichen Zeit hieß es in der PKK-nahen Presse, dass die syrische Erfahrung auch in der Türkei umgesetzt werden sollte, was in Ankara mit großer Besorgnis registriert wurde.

Im Sommer 2014 verknoteten sich dann mehrere Politikstränge: zum einen wurden türkische Diplomaten vom Islamischen Staat in Mosul festgesetzt und unter ungeklärten Bedingungen an Ankara wieder ausgeliefert. Seither verdächtigen selbst Freunde der Türkei Ankara des Doppelspiels. Gleichzeitig eroberten Barzanis Kämpfer die seit Generationen umkämpfte Stadt Kirkuk. Was wiederum erklärt, warum die Front im Westen vernachlässigt wurde und beim ersten Ansturm des IS kollabierte. Daraufhin ging die PKK in die Offensive und deckte die Massenflucht der dortigen Jesiden, einer esoterischen Minderheit, die den Muslimen als abtrünnig gilt. Seither versuchen Guerilla (PKK) und Peshmerga (Barzani) gemeinsam, den IS aus Sinjar zurückzudrängen.

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Grossmachtsansprüche: Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan nimmt die Türkei zunehmend auch überregional eine Führungsrolle ein – nicht immer gibt das Land dabei allerdings eine glückliche Figuar ab.

In Syrien wiederum lief sich der IS an der Kleinstadt Kobane fest. Die mediale Berichterstattung über die Kämpfe ging zum Teil auf die PKK zurück, sie ist zu einem größeren Teil jedoch dem amerikanischen Interesse geschuldet, von den Kämpfen um den Flug­hafen von Bagdad abzulenken. Der hohe Anteil von internationalen Dschihadisten, die über die Türkei nach Syrien kamen, nährte den Verdacht, Ankara würde den IS direkt unterstützen. Das scheint wenig wahrscheinlich, weil Ankara im islamistischen Lager vor allem al-Nusra unterstützt, gleichzeitig mit den USA an der Ausbildung der moderaten Opposition teilnimmt. Vielmehr dürften die vielen Säuberungswellen die Leistungsfähigkeit der türkischen Nachrichtendienste und speziellen Polizeieinheiten geschwächt haben. Damit ist der Gefahr, die von erfahrenen Dschihad-Kämpfern ausgeht, nur schwer beizukommen. Darüber hinaus haben nicht nur die ­Türken, sondern auch andere Staaten, zu lange die Augen geschlossen, wenn radikale Islamisten via Istanbul nach Syrien in die Krisenregion reisten. Schließlich war man nicht bereit, für das eigentliche Ziel, Assad zu stürzen, eigene Truppen zu stellen. Was als ambitiöse Außenpolitik begonnen hat, endet in der arabischen Wüste mit einem politischen Desaster für ­Ankara. Assad ist noch immer an der Macht, die internationalen Dschihadisten sind kaum kontrollierbar und der IS ist ein unberechenbarer Nachbar. Dazu kommt noch die Verschränkung von innerer und äußerer Sicherheit: denn bei den Kämpfen in Kobane standen sich dschihadistische (IS) und marxistische (PKK) Kurden und Türken aus der Türkei gegenüber. Es wird also wohl nicht lange dauern, bis der Mehrfrontenkrieg in Syrien auf die Türkei überschwappt.

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