China-Experte Franco Algieri leitet das International Relations Department an der Webster Vienna Private University. Wir haben mit ihm die ökonomischen und politischen Hintergründe der Neuen Seidenstraße und das neue militärische Selbstbewusstsein Chinas erörtert.

Herr Algieri, China präsentiert die Neue Seidenstraße, die sogenannte „Belt and Road Initiative” (BRI), vor allem als ökonomisches Projekt. Ist es nicht viel mehr?
Es hat den Anschein, als starrten einige Akteure in Europa gebannt auf dieses Projekt und erkennen darin vor allem ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Dabei vergessen wir aber, dass die BRI primär ein aus chinesischer Interessenlage heraus entstandenes Projekt ist. Es ist Teil eines größeren Ansatzes, bei dem es darum geht, Chinas regionale und globale Rolle zu stärken, innere Stabilität zu gewährleisten und das zuletzt gedämpfte Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die damit verbundenen, teils sehr hohen Erwartungshaltungen in vielen zentralasiatischen und europäischen Staaten werden sich daher meiner Meinung nach nicht erfüllen. Im Gegenteil: Mit dem Projekt kann für manche Staaten die wirtschaftliche Abhängigkeit von China zunehmen, parallel dazu auch die politische.

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Franco Algieri ist Leiter des International Relations Departments an der Webster Private University in Wien.

Aber die bereits getätigten und geplanten Millionen- und Milliardeninvestitionen in vielen Ländern lassen sich nicht wegdiskutieren.
Natürlich nicht. Es gibt durchaus positive Effekte, wenn beispielsweise Infrastrukturprojekte vorangetrieben werden wie die Modernisierung der Bahnlinie von Budapest nach Belgrad zur Hochgeschwindigkeitsstrecke oder die Weiterentwicklung des Hafens in Piräus. Aber diese Effekte werden unter dem Strich sicher nicht das Ausmaß haben, das erwartet wird. In manchen Ländern Mittel- und Osteuropas sowie am Westbalkan lösen sich die großen Hoffnungen auch bereits langsam in Luft auf. Der sich durch die Projekte erhoffte Boom bleibt aus und der ganz große China-Hype hat sich dort deutlich abgeschwächt.

Waren die Erwartungen vieler Regierungen zu blauäugig?
Ja, das würde ich schon sagen. Zu denken, dies sei ein Projekt, das vor allem gemacht wurde, damit auch andere Länder davon umfassend profitieren, war und ist jedenfalls ein Trugschluss. Die BRI ist ein wirtschaftliches und – um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen – auch politisches Projekt, das mitentscheidend dafür sein wird, wie wir China künftig verorten werden.

Warum sind trotzdem derart viele Regierungen froh über chinesische Investitionen und daran interessiert, Teil der Initiative zu werden? Waren sie und sind sie möglicherweise in den Nachwehen der Wirtschaftskrise offener dafür?
Die BRI wurde zwar erst 2013 vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping öffentlich präsentiert, aber schon im Verlauf der Finanzkrise einiger europäischer Staaten richteten sich Erwartungen auf China. Manch ein Unternehmen war damals auf der Suche nach Investoren und es herrschte vielfach die Meinung, dass chinesische Investitionen helfen würden. In manchen Fällen haben die Investitionen auch durchaus Wirkung gezeigt, aber natürlich stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, Teile der Hochtechnologie-Industrie oder Infrastruktur-Anlagen wie den Hafen von Piräus aus der Not heraus einfach ausländischen Investoren zu überlassen. Dass solche Ambitionen mancherorts bestanden haben, ist erklärbar. Dass es tatsächlich dazu kam, verwundert mich aber schon. Man hat damit schließlich die Kontrolle über Schlüsselbereiche teilweise aus der Hand gegeben.

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„Mit der Teilnahme an internationalen Missionen sammelt Chinas Armee Auslandserfahrungen”, so Franco Algieri. „Das ist beinahe wie ein Trainingsprogramm.”

Hat diesbezüglich mittlerweile ein Umdenkprozess eingesetzt?
Viele Regierungen sind heute hellhörig, weil sie mit der Zeit erkannt haben, dass mit diesen Investitionen das Know-how von Schlüsseltechnologien abwandern kann. Mittel- bis langfristig wird China damit diese Technologien auch selbst entwickeln, entsprechende Produkte herstellen und sogar verbessern können. Damit wird die Rolle Chinas als internationaler Wettbewerber stärker und europäische Technologiebereiche können darunter leiden. Dann werden manche Stimmen zwar immer noch mit dem Argument kommen, dass es sich dabei um geringere Qualität handelt und „Made in China” nicht „Made in Germany” oder „Made in Austria“ entspricht. Aber das stimmt teilweise schon jetzt nicht mehr und es ist nur eine Frage der Zeit, bis China Technologien entwickeln und Produkte herstellen wird, die den europäischen überlegen sind.

Was bedeuten die Bemühungen Chinas zum Ausbau der Neuen Seidenstraße militärisch? China unterhält seit 2017 einen ersten Marinestützpunkt in Dschibuti am Horn von Afrika. Will Peking seine Wirtschaftsinteressen und seine Investitionen in Seidenstraßen-Projekte schützen, ist wohl bald mit weiteren Militärkooperationen und -basen zu rechnen, oder?
Auf jeden Fall. China hat bereits damit begonnen, seine Ingenieure, Arbeiter und Manager in einigen Ländern durch private chinesische Sicherheitsfirmen schützen zu lassen. Ebenso sind die Infrastrukturinvestitionen zu schützen. Möglich ist das einerseits, indem das Land, in dem sich entsprechende Infrastrukturprojekte befinden, für die Sicherheit sorgt. Andererseits könnte dies auch, wie beim Personal, in die Hände privater Unternehmen gelegt werden oder China kümmert sich selbst darum …

… und engagiert sich militärisch.
Richtig. China hat dahingehend auch bereits erste Schritte gesetzt, befindet sich aber noch inmitten eines riesigen Lernprozesses, zu dem beispielsweise auch die Teilnahme an UN-Einsätzen, an internationalen Manövern und auch an der Anti-Piraterie-Mission vor der Küste Afrikas gehören. Seite an Seite mit anderen Nationen lernt China dort Abläufe kennen und sammelt Auslandserfahrungen. Das ist beinahe wie ein Trainingsprogramm und aus Sicht Chinas unheimlich wichtig, war man doch jahrzehntelang nur auf sich selbst und auf die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen fixiert.

Gibt es konkrete Überlegungen und Pläne zum Aufbau weiterer Stützpunkte?
Die gibt es bestimmt, Dschibuti wird sicher kein einmaliges Event bleiben und weitere Stützpunkte sind zu erwarten, beispielsweise in Südasien. Ganz sicher wird China in Zukunft auch im Kontext von Anti-Terror-Maßnahmen oder gemeinsamen Sicherheitsübungen noch mehr Präsenz zeigen und verstärkt zu sicherheitspolitischen Fragen Stellung beziehen. Damit kann China auch seinen regionalen und globalen Einfluss vergrößern und sein internationales Ansehen stärken.

Peking setzt nun also – nach Jahrzehnten der reinen Landesverteidigung und den zuletzt immer bestimmter formulierten Ansprüchen im Südchinesischen Meer – militärisch den nächsten Schritt?
Der Wandel ist eindeutig feststellbar. Die Rüstungsausgaben Chinas steigen seit Jahren, was aber – so ehrlich muss man sein – auch bei anderen Ländern der Fall ist. China modernisiert seine Armee und setzt dabei auch stark auf neue Technologien. Das Ziel ist es, Fähigkeiten aufzubauen – und das mit allem Nachdruck.

Sind die Inbetriebnahme eines ersten Flugzeugträgers vor einigen Jahren und der aktuell im Bau befindliche zweite Träger Teil dieser Entwicklung?
Definitiv. Den ersten Träger hat China noch von der Ukraine gekauft und er dient vor allem zu Übungszwecken. Es geht darum, zu lernen, wie man einen Träger betreibt. Der nun im Test befindliche zweite Träger ist bereits eine Eigenentwicklung und zwei weitere Träger sind in Planung. Die Fertigstellung und Inbetriebnahme der Flugzeugträger spiegelt nicht nur Lerneffekte wider, China wird damit auch militärisch einen gewaltigen Entwicklungsschritt machen.

Damit ist wohl auch zu erwarten, dass die anhaltende Konfrontation mit den USA in den kommenden Jahren weiter an Schärfe gewinnt, oder?
Genauso wie Europa und China befinden sich auch die USA und China wirtschaftlich in einem interdependenten Verhältnis. Sie sind eng miteinander verbunden, voneinander abhängig. Die Wirtschaftssysteme der beiden Länder sind derart verwoben, dass sich wohl keine Seite eine militärische Auseinandersetzung leisten kann. Dies hätte im Übrigen auch Folgen für Europa. Stellen sie sich einen größeren militärischen Konflikt im Südchinesischen Meer vor. Handelsrouten durch die Region wären betroffen, der Warenaustausch beeinträchtigt, Rohstofflieferungen gefährdet.

Ist damit ein militärischer Konflikt in der Region praktisch ausgeschlossen?
Das nicht, aber ich halte diese Möglichkeit für eher unwahrscheinlich. Die Frage ist nämlich: Wer will tatsächlich einen Krieg? Wer kann dadurch gewinnen? Da sehe ich keinen Gewinner und das scheint auch allen beteiligten Akteuren klar zu sein. Es wird immer wieder Konflikte und Auseinandersetzungen geben und man testet militärisch und ökonomisch natürlich immer ab, wie die Gegenseite auf bestimmte Entwicklungen oder Vorgänge reagiert. Aber eine Eskalation kann sich keine Seite erlauben.

Die teils aggressive Rhetorik ist also nichts als Säbelrasseln?
Ein wiederkehrendes Säbelrasseln ist erkennbar. Man beäugt sich stets kritisch und dreht ein wenig an der Eskalationsschraube – mal in die eine Richtung, mal in die andere. Es passiert kaum zufällig, dass Flugzeuge durch Flugverbotszonen fliegen oder sich Schiffe zu nahe kommen. Da steckt immer eine Absicht dahinter und die ist unter anderem von innenpolitischen Entwicklungen bestimmt.

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China-Experte Franco Algieri: „China benötigt keine militärische Okkupation
von Regionen, um eine hegemoniale Rolle einzunehmen. Ökonomisch ist das für Peking wesentlich einfacher zu erreichen.”

Es wird also ständig nur ausprobiert, wie weit man gehen kann?
Man bewegt sich dabei natürlich manchmal auch auf dünnerem Eis, aber es ist allen Seiten bewusst, was eine echte Konfrontation bedeuten würde. Und vor allem: Was sie kosten würde.

Mit der EU gibt es militärisch kaum Konfliktpotenzial, oder?
Nein, die EU spielt militärisch für China keine Rolle. Wir haben keine Flugzeugträger, die im Südchinesischen Meer patrouillieren. Wir haben keine Basen in Asien und wir hegen auf globaler Ebene nur geringe militärische Ansprüche. Bei den Amerikanern ist das gänzlich anders. Washington befindet sich in einer stetigen Positionsbestimmung, wie es mit Blick auf China agieren soll. Abhängig von den chinesischen Schritten versuchen die USA mit Partnern in der Region zusammenzuarbeiten, selbst vor Ort präsent zu sein und mit anderen Akteuren – beispielsweise der EU – gemeinsame Positionen gegenüber China zu vertreten. Konfliktpotenzial gab und gibt es beispielsweis bezüglich Taiwan und Japan, und seit einigen Jahren auch wegen territorialer Ansprüche im Südchinesischen Meer. Es wird sich zeigen müssen, was sich aus einer möglichen Erweiterung der BRI in die arktische Region oder nach Südamerika und die Karibik an Konfliktpotenzial ergeben könnte. Und das gilt übrigens völlig losgelöst von der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Trump. Chinas Expansionspläne werden von den USA schon lange kritisch beäugt und stehen ganz sicher auch in einer Post-Trump-Phase weit oben auf der Agenda der amerikanischen Außenpolitik.

Gilt das auch für die anderen südostasiatischen Länder, mit denen sich China teils um Land- und Besitzansprüche im Südchinesischen Meer im Streit befindet? Beäugen sie die Expansionspläne auch kritisch?
Natürlich gibt es kritische Stimmen, die sagen, dass Chinas Politik vor allem darauf ausgerichtet ist, langfristig der Hegemon in Südostasien zu sein. Die Frage ist, ob China diese Rolle militärisch einnehmen will, und da habe ich meine Zweifel. Ökonomisch ist das nämlich wesentlich einfacher zu erreichen. Wenn wir uns anschauen, wie stark der innerasiatische Handel jetzt schon ist, welche zentrale Rolle China dabei spielt und inwieweit diese Verzahnung im Zuge der BRI noch wachsen kann, dann benötigt Peking keine militärische Okkupation von Regionen, um eine hegemoniale Rolle einzunehmen.

Quelle©Lukas Ilgner