Riskiert die EU gerade ihre eigene Sicherheit, indem sie beim „Nachdenken” über neue Kriterien für nachhaltige Finanzierungen ihre eigene Verteidigungsindustrie brandmarkt?

Es scheint so. Seit dem Sommer gruppieren jedenfalls diverse EU-Vorschläge den Sektor – zusammen mit Tabak und Glücksspiel – als „sozial schädlich”. „Woke” Bankmanager ziehen sich fast schon beschämt aus dem Sektor zurück und bereits jetzt gehen Investoren im Zusammenspiel mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf Distanz zu den Waffenherstellern. Auch eine wichtige deutsche Bank plant, ihr Verteidigungsgeschäft „auszublenden”. Mit etwaiger EU-Billigung dürfte sich der Trend noch verstärken. Für etliche der betroffenen Unternehmen wird ihre (bisherige) Bankverbindung nun plötzlich zum ernsten Problem.

Das also ist der „Gipfel”?
In ihrer Rede zur Lage der EU forderte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen  den Kontinent auf, „mehr für seine eigene Sicherheit zu unternehmen. Es ist an der Zeit, dass Europa einen Sprung macht”, sagte die Kommissionspräsidentin im September vor den Abgeordneten des EU-Parlaments. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – er hat übrigens gerade 80 Rafále-Jets um 17 Milliarden Euro an die Emirate verkauft – werde sie daher im nächsten Jahr zu einem „Gipfel der Europäischen Verteidigung” einladen. Von der Leyens Beamte sitzen allerdings zeitgleich an einem Regelwerk, das jenen Wunsch nach mehr Souveränität und Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich so wirksam untergraben könnte wie einst osmanische Sappeure die Stadtmauern. Es geht um die Frage, ob Investitionen in den Rüstungsbereich für den Finanzmarkt unter die Nachhaltigkeitskriterien fallen (dürfen). Die – noch unscharfe – Antwort aus Brüssel darauf lautete bislang: Wohl eher nicht.

Anfang des Jahres entschied leise bereits die Bayerische Landesbank keine Geschäfte mehr mit Rüstungsunternehmen machen zu wollen. Noch ist es nicht öffentlich, aber die LBBW dürfte Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen mit mehr als 20 Prozent Umsatz in der Verteidigung „verblassen” lassen. Alleine schon das Gerücht hat die europäische, aber besonders die im Vergleich zu Frankreich politisch schwach aufgestellte deutsche, Verteidigungsindustrie erschüttert. Bayern ist schließlich die Heimat einiger der größten deutschen Branchenriesen wie Airbus Defence & Space oder Hensoldt, mit vielen tausend Mitarbeitern. Auf diesen Widerspruch hat auch Airbus Defence & Space CEO Michael Schöllhorn kürzlich beim jährlichen „Trade Briefing” verärgert hingewiesen. Wenn Bayerns (freistaatlich kontrollierte) Bank glaubt, dass Verteidigung zu umstritten oder gesellschaftlich zu heikel ist, um zu ihr Beziehungen zu halten, warum sollten dann Banken des privaten Sektors einspringen?

@EU
Im EDA-Factsheet for Investment tun sich aus verteidigungs- und sicherheitspolitischer Perspektive zahlreiche Widersprüche auf.

Keine Kriegswaffen, trotz Ausfuhrgenehmigung
Worum es genau geht, ist bereits in deutschen Medien wie dem Handelsblatt erklärt worden: Demnach würden von der LBBW nur noch Geschäfte direkt für die Bundeswehr und die Landesverteidigung unterstützt. Die Finanzierung von Rüstungsgüter für den Export werde ausgeschlossen, teilte die Bank auf Anfrage der Zeitung mit. Im Rahmen eines Strategieprogramms habe man sich für nachhaltigen Erfolg unter Berücksichtigung der Aspekte Rendite, Risiko und Auftrag der Gesellschafter neu aufgestellt. Dazu gehört, dass sich die Bank aus bestimmten Branchen wie etwa der Rüstungsindustrie zurückzieht. Unter Einhaltung aller vertraglichen Vereinbarungen laufen die Geschäftsbeziehungen mit Rüstungsunternehmen dann aus, wenn diese vom renommierten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) auf der Liste der weltweit größten Firmen mit einem entsprechenden Umsatzanteil von mehr als 20 Prozent geführt werden. Wörtlich: „Die Lieferung von Kriegswaffen ins Ausland finanziert die LBBW auch dann nicht, wenn das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) die Ausfuhr genehmigt hat.” Gilt das auch für die Lieferungen an NATO-Partner und was ist mit den immer mehr werdenden multinationalen Kooperationsprojekten? Forschung für Produkte künstlicher Intelligenz? Cyber- oder elektronische Kriegsführung? Keine Erläuterung.

Was ist soziale Taxonomie?
Das europäische Klassifizierungssystem für solch – nicht nur ökologisch – „grüne” Investitionen wird angeblich noch vor Jahresende als die sogenannte „Umwelttaxonomie” veröffentlicht. Hintergrund für eine noch weiterführende Liquiditäts-Bedrohung ist aber, dass in Brüssel eine Diskussion auch darüber im Gange ist, was „sozial nachhaltige Finanzen” ausmachen. Beamte arbeiten bereits an einer „sozialen Taxonomie”, um zu definieren, welche Aktivitäten positiv zur Gesellschaft beitragen, welche keinen signifikanten Schaden anrichten und welche schlicht schädlich sind. Die EU-Kommission will – laut Medienberichten unter großem Einfluß von wohl mehrheitlich rüstungskritischen NGOs – derzeit definieren, wer und was unter die für Geschäftsbeziehungen so wichtigen ESG-Kriterien fällt. Die Abkürzung steht für Umwelt (Environment), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance). Wer die nicht erfüllt, hat mit erheblichen Nachteilen im Geschäftsleben zu rechnen. So sehen es die Regelungen vor. In den im Juli vorgelegten Vorschlagsentwürfen wurde die Verteidigungsindustrie – zusammen mit Glücksspiel und Tabak (!) – erst mal als schädlich und daher folglich als „nicht sozial nachhaltig” eingestuft.

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Die Entwürfe (Drafts) sehen eigentlich vor, das Etikett „schädlich” auf Aktivitäten zu beschränken, die durch internationale Verträge strikt verboten oder – worin gerade die Amerikaner, Russen oder Chinesen nicht mitziehen – geächtet sind. Also etwa chemische oder biologische Waffen oder Streubomben. Doch Sprache und Umfang bleiben unklar. Darüber hinaus soll noch ein weiterer Vorschlag existieren, wonach künftig generell bei breit verkauften Finanzprodukten mit einem EU-Öko-Verbraucherlabel keine Unternehmen mit mehr als fünf Prozent Rüstungsanteil am Umsatz enthalten sein dürfen. Unternehmen sollen also explizit daran gehindert werden, sich für ein sogenanntes „Öko-Kitemark” zu qualifizieren, das für Finanzprodukte für Privatkunden verwendet werden soll, „wenn mehr als fünf Prozent des Umsatzes aus der Herstellung oder dem Handel mit konventionellen Waffen und/oder militärischen Produkten für den Kampf stammen”.

Ohne auch militärische Sicherheit, keine andere Nachhaltigkeit
Es überrascht daher nicht, dass die Verteidigungsindustrie Alarm schlägt. ASD, der Handelsverband der europäischen Verteidigungsindustrie, hat an die Kommission geschrieben, um zu warnen, dass diese Vorschläge die Sicherheit des Blocks untergraben könnten, indem sie die Fähigkeit der Verteidigungsunternehmen einschränken, Finanzmittel zu sichern und so zu investieren. „Es ist ein Problem, wenn wir als nicht sozial ‚würdig’ definiert werden”, sagte ASD-Präsident Alessandro Profumo (der auch Geschäftsführer des italienischen Verteidigungschampions Leonardo ist): „Ohne auch militärische Sicherheit, können wir keine nachhaltige Gesellschaft haben.”

@Bundeswehr/Jane Schmidt
Mit den neuen Richtlinien steht die Finanzierung von Rüstungsgroßprojekten wie dem FCAS vor einer ungewissen Zukunft. Im Jahr 2019 präsentierten der Inpsekteur der Luftwaffe Generalleutnant Ingo Gerhartz, die damalige deutsche Verteidigungsminiterin Ursula von der Leyen und der französische Präsident Emmanuel Macron Entwicklungsvereinbarungen für das FCAS (Future Combat Air System) und das NGWS (New Generation Weapon System).

Schon jetzt die kursierenden Vorschläge Wirkung. Jan Pie, Generalsekretär der ASD, nennt Beispiele von Banken, die die Beziehungen zu Verteidigungsunternehmen in Deutschland, Finnland, Belgien, den Niederlanden und Schweden abgebrochen haben. Ein belgischer Konzern habe sogar Mitarbeiter von Nicht-EU-Bankkonten bezahlen müssen. Der deutsche Rüstungsverband hat festgestellt, dass mehr als ein Drittel der Mitglieder mit dringenden Problemen mit Banken konfrontiert ist, wie beispielsweise der Weigerung, Standarddienstleistungen oder Exportversicherungen zu erbringen. Am stärksten schlagen die Auswirkungen auf kleinere Unternehmen durch, die für die Lieferkette und Innovation von entscheidender Bedeutung sind. Gerade mittelständischen High-Tech-Branchenzulieferer-Firmen in Deutschland droht ein kritischer Kapitalentzug. Denn der Vorschlag birgt auch die Gefahr, zivile Unternehmen abzuschrecken, die immer wichtiger werdende Misch- sowie Dual-Use-Technologien auch für Verteidigungsprojekte bereitstellen. Produkte wie das mühsam von Paris, Berlin und Madrid auf Schiene gesetzte Luftkampfsystem der 6. Generation (FCAS) hat bis zu seiner Marktreife irgendwann in den späten 2030er- oder frühen 2040er-Jahre sicher mehr als tausend Zulieferer, Dassaults Rafále alleine rund 400.

Es gibt natürlich gute Gründe, der Verteidigungsindustrie kritisch oder skeptisch gegenüberzustehen. So stellte Transparency International beispielsweise fest, dass nur zwölf Prozent der 134 weltweit führenden Verteidigungsunternehmen ein hohes Maß an Engagement für Korruptionsbekämpfung zeigen. Aber es gibt viele internationale Verträge, Richtlinien und Weißbücher, die den legitimen Handel mit konventionellen Waffen definieren. Wenn europäische Spitzenpolitiker wie Ursula von der Leyen kürzlich die „Notwendigkeit einer starken Verteidigungsindustrie angesichts wachsender globaler Bedrohungen und sogenannter strategischer Rivalen” betonen, ist es eine schräge Chuzpe, hintenrum Verteidigungsunternehmen als „sozial schädlich” zu definieren, wenn sie gleichzeitig für die Stabilität sowie das so oft als zu gering beklagte geopolitische „Standing” der EU von entscheidender Bedeutung sind. Verteidigung ist nicht dasselbe wie Rauchen, Pornografie und Glücksspiel, wo es tatsächlich schwierig ist, ein breiteres soziales Gut zu sehen.

Im Gegenteil gibt es schließlich unter dem Strich nichts „Nachhaltigeres” als die eigene Verteidigung und ihre Fähigkeiten, ohne ihr wären alle anderen und noch so grundguten Ambitionen tönern. Damit aber der Sektor forschen, entwickeln und „Sprünge machen” kann (Ursuala von der Leyen) muss er seine Produkte – zumindest in deutschsprachigen Ländern bei vielen Rüstungsexporten ohnehin streng ausgelegt und öffentlich breit debattiert – auch verkaufen können. Denn die heimischen Märkte sind oft viel zu träge und zu klein, um ökonomisch sinnmachend alle neuen Entwicklungen aufzunehmen. Allzu oft sind potenzielle Abnehmer skeptisch, weil das doch offenbar attraktive und innovative Produkt im Herstellerland nicht eingeführt ist.

Einige – eventuell in jenen einflussreichen NGOs – mögen die Verteidigung nicht, aber dann müssen sie erklären, wie man mit ihrer „Gängelung” zu anderen, heheren Zielen kommt. Dieselbe Kommission sollte neben Gipfelreden über die Verteidigungs-Zusammenarbeit á la PESCO auch sorgfältig über die Folgen der wahllos erscheinenden Kennzeichnung des ganzen Sektors als „nicht nachhaltig” nachdenken. Wenn es sogar gesetzestreuen Unternehmen erschwert wird, Finanzmittel zu beschaffen, werden die Regierungen entweder gezwungen sein, mehr – der oft so unpopulären – Kosten zu schultern oder mehr aus dem Ausland zuzukaufen. Aber dann hat Europa sogar noch weniger Kontrolle über das Verhalten jener Hersteller.

Ja natürlich, Waffen können schädlich sein. Aber sie sind sicher noch schädlicher, wenn „Bullies”, von denen potenzielle Bedrohungen ausgehen, sie unbekümmert und amüsiert ob der eigenen „Selbstfesselung” zum Einsatz bringen oder als Drohkulisse verwenden können.

Quelle@Mitya Ivanov on Unsplash, EU
Der Autor ist einer der renommiertesten österreichischen Luftfahrtjournalisten, Korrespondent des britischen Jane’s Defence und schreibt seit vielen Jahren für Militär Aktuell.