Seit Beginn des Ukraine-Kriegs baut Russland verbal und wiederholt an seiner nuklearen Drohkulisse. Dabei geht vor allem von EMP-Waffen mit ihren disruptiven elektromagnetischen Impulsen eine überregionale Bedrohung aus.

Russlands Präsident Wladimir Putin droht seit Beginn des Ukraine-Krieges vor einem Jahr immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen: „Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen”, so der Kremlchef erst kürzlich wieder in einer Rede an sein Volk. Unheilvoller Nachsatz: „Unser Land verfügt über verschiedene Zerstörungsmittel, die in einigen Fällen auch moderner sind, als die der NATO-Länder.”

„Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen!“

Russlands Präsident Wladimir Putin

Was Putin damit genau meint? Einerseits natürlich konventionelle „große” Atomwaffen, deren Einsatz aber sicherlich nicht unbeantwortet bleiben würde und damit praktisch auszuschließen ist. Andererseits verfügt Russland auch über „taktische Atomwaffen” mit einem vermeintlich kleineren Wirkungskreis und geringerer Sprengkraft. Tatsächlich weisen die kleinsten taktischen Atomwaffen eine Sprengkraft von „nur” 0,5 Kilotonnen (kT) auf. Die größten bringen es aber sogar auf bis zu 50 kT und fallen damit zwei bis drei Mal so stark wie die 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben aus. Sie
würden daher bei einem Einsatz ein größeres Gebiet nachhaltig auch für eigene Truppen verseuchen und am Schlachtfeld möglicherweise sogar eigene Kontingente treffen. Und da zudem ein Angriff auf die Ukraine wohl den Widerstandswillen der gesamten Bevölkerung stärken dürfte und militärisch kaum Vorteile brächte, ist ein Einsatz wohl ebenso unrealistisch – in Bodennähe.

Anders sieht es mit einem möglichen Einsatz in großer Höhe aus. Die freigesetzte Radioaktivität einer hoch in der Luft zur Explosion gebrachten taktischen Nuklearwaffe würde kaum „Fallout” ergeben und Menschenleben in Gefahr bringen, der dadurch ausgelöste elektromagnetische Impuls könnte aber abseits von gehärteten Netzwerken die elektronische und digitale Infrastruktur ganzer Länder kurzzeitig lahmlegen oder sogar dauerhaft ausschalten. Also auch militärische Computer, Radarsysteme, Kommunikationssysteme und Präzisionswaffen. Die Bedrohung durch nukleare und 1 bis 10 kT starke EMP-Waffen (englisch Electromagnetic Pulse für elektromagnetischer Impuls) ist seit den 1960er-Jahren evident.

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Das durch die bei der Explosion freigesetzten Gammastrahlen erzeugte hochenergetische Ladungsfeld könnte – so die Befürchtung des Westens – nicht nur die Ukraine vom Netz nehmen, sondern ganz Europa nachhaltig ins Chaos stürzen. Und das praktisch ohne Abwehrmöglichkeit: Zwar würden die US-/ NATO-Raketenabwehr in Polen und Rumänien sowie die in Europa stationierten Aegis-Schiffe der US Navy sicherlich einige der anfliegenden Systeme abfangen. Aber ob das lückenlos gelingt? Und ob ein Angriff überhaupt auf herkömmlichem Weg erfolgen würde? Eine entsprechende Waffe bräuchte im Unterschied zu konventionellen Nuklearwaffen weder Wiedereintrittskörper noch Hitzeschilde oder Stoßdämpfer. Sie könnte sogar von Boden-Boden-Raketen und Militärflugzeugen zum Einsatz gebracht werden. Ja sogar – Stichwort hybride Kriegsführung samt deren Verschleierung – von Zivilflugzeugen oder mithilfe meteorologischer Ballons.

„Eine EMP-Waffe bräuchte im Unterschied zu konventionellen Nuklearwaffen weder Wiedereintrittskörper noch Hitzeschilde oder Stoßdämpfer.“

Wie verheerend die Auswirkungen wären, zeigt ein Szenario einer inzwischen aufgelösten Kommission zur Beurteilung der Bedrohung der USA durch EMP-Angriffe aus dem Jahr 2017. Dieses ging von einer – in der Stärke allerdings nicht definierten – Explosion einer Atomwaffe rund 60 Kilometer über dem NATO-Hauptsitz in Brüssel aus. Das resultierende EMP-Feld würde sich in dem Fall über einen Umkreis von 850 Kilometern erstrecken und damit nicht nur die Benelux-Länder abdecken, sondern auch ganz Deutschland, Dänemark und die Schweiz, praktisch ganz Frankreich, große Teile Großbritanniens, den Osten Irlands, den Norden Italiens sowie den Westen Tschechiens, Österreichs und Polens. Folge davon wäre ein großflächiger Zusammenbruch der verbundenen europäischen Stromnetze (Blackout) weit über den 850-Kilometer-Radius hinaus. Zudem wären in dem mittlerweile fünf Jahre alten Szenario die baltischen Staaten einem folgenden russischen Angriff gegenüber mehr oder weniger wehrlos. Russische Panzer könnten über die Exklave Kaliningrad und das Hauptland „in nur 60 Stunden durch die baltischen Staaten rollen”, so die Autoren der Studie. Innerhalb von sechs Monaten könnte Russland alle europäischen Territorien der ehemaligen Sowjetunion unter seine Kontrolle bringen.

Ob eine aktuelle Bewertung der russischen Armee angesichts ihrer immensen Probleme und Schwierigkeiten in der Ukraine einen solchen Erfolgslauf überhaupt zulassen würde, darf bezweifelt werden. Unbestritten ist aber die mit einem möglichen EMP-Angriff verbundene Gefahr für Europa und insbesondere Osteuropa. Noch dürfte Russland auf anderem Wege versuchen, seine Kriegsziele in der Ukraine zu erreichen. Aber wer weiß, ob ein ernüchterter Putin in fünf, sechs oder sieben Monaten nicht möglicherweise doch zu anderen Mitteln greift, wenn sich auch bis dahin keine durchschlagenden Erfolge einstellen sollten.

Quelle@IStock