Der Österreicher Lukas Mandl ist stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Europaparlament. Wir haben mit ihm über die Zäsur des Ukraine-Kriegs, verstärkte Verteidigungsbemühungen der Europäischen Union und Bemühungen zur gemeinsamen Beschaffung von Verteidigungsfähigkeiten gesprochen.

Herr Mandl, wie überrascht sind Sie von den aktuellen Entwicklungen in Osteuropa?
Von den verlogenen Narrativen aus dem Kreml bin ich nicht überrascht. Denn die russische Führung wendet seit geraumer Zeit Mittel der hybriden Kriegsführung gegen die EU und die gesamte demokratische Welt an. Der russische Staat unterdrückt auch die russische Bevölkerung. Ich hoffe, dass sich die Menschen in Russland eines Tages demokratisch befreien werden. Davon, dass aus dem Kreml tatsächlich der Start eines Angriffskriegs gegen einen friedlichen Nachbarstaat befehligt wurde, war ich ehrlich gesagt sehr überrascht. Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass das Vorgehen nicht nur unmenschlich ist, sondern auch unvernünftig. Aus der Sicht der russischen Führung war und ist viel mehr zu verlieren und in Wahrheit nichts zu gewinnen. In diesem Sinne darf man die innenpolitische Dimension nicht unterschätzen. Die Staatsspitze kann der russischen Bevölkerung fast nichts bieten – weder wirtschaftliche Prosperität noch etwa ein angemessenes Pandemiemanagement. Man dachte wohl, darüber würde brutales, martialisches Auftreten nach außen hinweghelfen. Das könnte sich als Trugschluss erweisen. Wir versuchen nach Kräften, dazu beizutragen. Dafür müssen die Sanktionen möglichst lückenlos sein. Es gilt, daran so lange wie nötig weiterzuarbeiten. Ich schätze in diesem Kontext die klaren Worte von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in ihrer Rede in der Sondersitzung des Europaparlaments am 1. März wörtlich gesagt hat, dass die Hand an das andere Russland ausgestreckt sei. Das kann man nicht oft genug betonen.

Unaufhörlich drehen sie ihre Runden …

Welche mittel- bis langfristigen Auswirkungen hat der Konflikt auf die Europäische Union und Österreich im Speziellen?
Das hängt maßgeblich von uns ab. Zu meinen Lebensthemen gehört die Arbeit für ein Europa mit mehr Stärke nach außen. Im Schockmoment des Überfalls, des Angriffskriegs, der unglaublichen Brutalität gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine, hat die EU eine Einigkeit nach außen hin in einer nie dagewesenen Qualität gezeigt. Jede Freude darüber verbietet sich, weil in der Ukraine Kinder, Frauen und Männer leiden. Aber dieses Momentum gehört genützt für nachhaltige Einigkeit, für die Stärkung Europas auch im Sinne der viel zu lange vernachlässigten Schritte wie etwa der Aufnahme der sechs Westbalkan-Staaten in die EU. Auch die Schweiz zieht bei den Sanktionen mit. Vielleicht erinnert das manche in der Brüsseler Blase daran, wie eng verbunden wir auf der Basis der von Europa vertretenen Werte mit der Schweiz sind und wie wichtig die enge EU-Schweiz Bindung für die Stärke und Handlungsfähigkeit Europas ist. Österreich kann und muss hier beitragen. Österreich muss das Momentum auch nützen für ein neues, angemessenes Verständnis der Landesverteidigung, wie es die neue deutsche Regierung in großer Einigkeit mit der Oppositionsspitze gemacht hat. Das betrifft nicht nur den europäischen Verbund, sondern auch den eigenen Haushalt. Auf europäischer Ebene gehört auch klargestellt, dass einschlägige Investitionen – etwa im Sinne des European Defence Fund (EDF) – willkommen sind, weil sie der Sicherheit sowie der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem zunehmend konfrontativen Umfeld dienen.

„Österreich muss das Momentum für ein neues, angemessenes Verständnis der Landesverteidigung nützen.“

Was bedeutet das im Speziellen auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union?
Zum vorhin Gesagten kommt hinzu, dass wir uns jetzt anstrengen müssen, in der Permanent Structured Cooperation (PESCO) auch mit der Schweiz und dem Vereinigten Königreich sowie mit den Westbalkanstaaten zu kooperieren. Das ist von größter Wichtigkeit für eine kohärente europäische Sicherheitspolitik. Der EDF gehört aufgestockt, und zwar noch vor dem nächsten mehrjährigen Finanzrahmen. Das wird auch ein treibender Faktor für Innovation und Produktion sein, also wichtig für Wettbewerbsfähigkeit und hochwertige Arbeitsplätze in Europa. Im Bereich der Intelligence müssen die Mitgliedstaaten und freundlich gesinnte europäische Partnerstaaten viel enger zusammenarbeiten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat das in ihrer Rede zur Lage der Union vergangenen Herbst völlig richtig betont. Ich hatte schon im Jänner vergangenen Jahres im österreichischen Nationalrat das Intelligence College als aussichtsreiche Plattform der Zusammenarbeit hervorgehoben. Und wir haben es in einem Jahr harter Arbeit geschafft, dass nun die Arbeit des Sonderausschusses gegen Foreign Interference im Europaparlament nicht mit dem Abschluss des Ausschusses endet, sondern in neuer Form fortgesetzt wird. Ich strebe auch eine viel engere Bindung des European External Aktion Service (EEAS) an das Europäische Parlament an, durchaus nach deutschem Vorbild. Auf sehr kurzem Weg gehört die von Außenbeauftragten Josep Borrell angekündigte schnelle Eingreiftruppe umgesetzt.

Deutschland hat bereits ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm angekündigt, Schweden prüft eine Erhöhung seines Wehretats und auch in Österreich soll das Bundesheer mehr Geld bekommen. Rechnen Sie mit einer deutlichen Steigerung der Verteidigungshaushalte in der gesamten Union?
In Westeuropa ist es Frankreich, das vielleicht nicht viel erhöhen muss, weil man dort auch schon vor dem Tabubruch des Angriffskriegs auf europäischem Boden angemessen in Sicherheit investiert hatte. Außerdem sind es aufgrund der schon bisher wahrgenommenen Nähe zu Bedrohungsszenarien sowohl Griechenland als auch die baltischen Staaten und Polen, sowie außerhalb der EU Großbritannien und Nordirland sowie zweifellos die Schweiz, die hier stark aufgestellt sind. Auch Rumänien und die Slowakei investieren schon bisher viel. Ansonsten braucht es auf mitgliedstaatlicher Ebene mehr Anstrengung sowie viel mehr europäische Koordination, damit dieses Steuergeld so sparsam und wirksam wie möglich eingesetzt wird. Koordination und Kooperation erhöhen auch die Sicherheit der Europäerinnen und Europäer.

Hilfe für die Ukraine: Was jetzt benötigt wird

Welche Auswirkungen ergeben sich in weiterer Folge auch für Projekte wie PESCO und die europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie? Wird es da auch von Seiten der EU Gelder für gemeinsame Beschaffungen und Projekte geben?
Die vorhin erwähnten Punkte zu PESCO und zum EDF kann ich noch dahingehend ergänzen, dass es ja zur Unterstützung der ums nackte Überleben kämpfenden ukrainischen Bevölkerung nun erstmals mit der European Peace Facility seitens der EU direkt in Militärmaterial für Partner investiert wurde. Für die EU ist das Defence Package der Europäischen Kommission vom Februar dieses Jahres Anlass zur Zuversicht, dass wir uns hier besser aufstellen, auch im Sinne der vorhin genannten Kooperation und des seriösen Einsatzes von Steuergeld für unser aller Sicherheit. Vor allem wird eine Reihe von Instrumenten geprüft, um Anreize für die gemeinsame Beschaffung von Verteidigungsfähigkeiten zu schaffen, die in der EU gemeinsam entwickelt werden. Dazu zählen eine Befreiung von der Mehrwertsteuer, die Bereitstellung von neuen Finanzierungslösungen und die Überprüfung der Bonusmechanismen im Rahmen des EVF, um so Bedingungen für die Unterstützung gemeinsamer Beschaffung von Ausrüstung, gemeinsamer Instandhaltung und gemeinsamer Einsätze zu schaffen

Hier geht es zu den anderen Beiträgen unserer Serie „5 Fragen an”.

Quelle@Büro Lukas Mandl/M. Lahousse