Der Krieg in der Ukraine fokussiert sich zunehmend auf die größten Städte des Landes. Was das für die verteidigenden und angreifenden Truppen bedeutet? Ein Gespräch mit Major Klaus Kuss, Häuserkampfexperte an der Heerestruppenschule und stellvertretender Leiter des Instituts Jäger. Unter anderem ist er auch „International Urban Operation Advisor”.

Herr Major, derzeit geraten immer mehr ukrainische Städte ins Zentrum der Berichterstattung. Wie muss man sich diese Kämpfe in bewohntem Gebiet vorstellen?
Der Kampf in einer Ortschaft zählt generell zu den schwierigsten und blutigsten überhaupt. Der Kampf wird auf einem dreidimensionalen Gefechtsfeld geführt. Das bedeutet, dass man nicht nur aus den Häusern, sondern auch aus unterirdischen Systemen wie beispielsweise dem Kanalsystem oder von Dächern aus bekämpft werden kann. Bedrohungen können permanent aus allen Richtungen auftreten, man weiß nicht, wo der Feind ist. Zudem sind die Kampfentfernungen sehr gering, oft muss der Nahkampf geführt werden. Sehr viel Feuer konzentriert sich auf sehr engen Raum und die Waffenwirkung, zum Beispiel von Artilleriegeschossen oder Raketen, wird durch Splitter und die dichte Bebauung massiv verstärkt. Der Kampf im urbanen Umfeld ist daher psychisch und physisch besonders hart, zehrend und auch sehr verlustreich.

Wie sollte sich die Bevölkerung einer Stadt verhalten, wenn diese angegriffen wird?
Die Zivilbevölkerung sollte – solange es möglich ist und vielleicht humanitäre Korridore oder Ähnliches bestehen – versuchen, die Stadt zu verlassen. Ist das nicht mehr möglich, so ist es ratsam in Kellern, dem U-Bahn-System oder in Bunkern Schutz zu suchen. Der Aufenthalt im Freien sollte unbedingt vermieden werden, da hier die Gefahr besteht, zwischen die kämpfenden Parteien zu geraten oder durch die vorher angesprochenen Waffenwirkungen verletzt oder getötet zu werden. Unter keinen Umständen sollte sich die Zivilbevölkerung an den Kampfhandlungen aktiv beteiligen. Die Menschen sind dafür nicht entsprechend bewaffnet, ausgerüstet und ausgebildet und daher stark benachteiligt gegenüber regulären Kräften. Kämpfende Zivilisten haben auch keinen Kombattanten-Status, fallen nicht unter das humanitäre Völkerrecht und sind daher auch in dieser Hinsicht nicht geschützt.

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Sind die Verteidiger einer Stadt gegenüber den Angreifern im Vorteil?
Die Verteidiger sind grundsätzlich im Vorteil, denn das urbane Umfeld eignet sich hervorragend für die Einsatzart Verteidigung. Es gibt eine Vielzahl an Stellungs- und Beobachtungsmöglichkeiten, die Möglichkeit aus fast allen Richtungen den Angreifer mit Feuer zu bekämpfen und die Häuser können guten Schutz vor der gegnerischen Waffenwirkung bieten. Der Angreifer ist grundsätzlich auf die Nutzung der Straßen angewiesen, wenn er rasch Vorwärtskommen will, dadurch stark kanalisiert und leichter zu bekämpfen. Verteidigende Kräfte einer Stadt oder Ortschaft haben zudem meistens Ortskenntnis und finden sich im unübersichtlichen bebauten Gebiet gut zurecht, während der Angreifer für ihn komplettes Neuland betritt und er dadurch bei der Orientierung Schwierigkeiten hat. Steht den verteidigenden Kräften die entsprechende Zeit zur Verfügung, können sie zusätzlich Sperren aller Art errichten, ihre Stellungen ausbauen und ihre Kampfführung vorüben und somit Kampfkraft und -wert erheblich steigern. Hinzu kommt, dass eine etwaige technologische und Kräfte-mäßige Überlegenheit des Angreifers durch das Gelände – die Rede ist vom bebauten Gebiet – herabgesetzt wird. Der Angreifer benötigt eine vielfache Überlegenheit, den massiven Einsatz von Steilfeuer und anderer Wirkmitteln aus der Luft, sowie Mittel der elektronischen Kampfführung, um eine Aussicht auf Erfolg zu haben.

Wieso ist die Inbesitznahme von Städten so bedeutungsvoll? Reicht es nicht, den umgebenden Raum zu beherrschen?
Städte stellen grundsätzlich die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, infrastrukturellen und religiösen Zentren eines Landes dar. Sie sind daher von sehr großer Bedeutung und haben auch einen sehr hohen Symbolcharakter, da sie meist auf eine geschichtsträchtige Vergangenheit zurückblicken können. Die Inbesitznahme durch feindliche Kräfte hat einen stark negativen psychologischen und moralischen Effekt auf die verteidigenden Kräfte und Menschen eines Landes. Man ist eher bereit, ein ländliches Gebiet mit wenig Infrastruktur aufzugeben als eine Stadt.

Der Trend zur Urbanisierung ist also auch im Krieg zu beobachten?
Ein Großteil der Bevölkerung lebt im urbanen Raum und ein Angreifer will diese Menschen kontrollieren und ihnen seinen Willen aufzwingen. Also ja, der generelle Trend der Urbanisierung rückt die Städte zusätzlich in den Fokus strategischer Überlegungen.

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Quelle@Bundesheer
Bei den mit „Bundesheer” gezeichneten Beiträgen handelt es sich um offizielle Aussendungen oder Artikel der österreichischen Streitkräfte.