Atomwaffen werden modernisiert, mit ihnen wird gedroht und sie werden gerade verboten. Eine Übersicht der nuklearen Unübersichtlichkeiten.

Jeder weiß, wie es aussieht, wenn man die Buchstaben N und D im Winkeralphabet übereinandergelegt. Genau, sie ergeben das Peace-Zeichen und das gibt es seit 1958. N und D stehen für Nuclear Disarmament. In diesen späten 1950er-Jahren wurden die ersten Friedensmärsche für nukleare Abrüstung in Großbritannien organisiert und seit den 1960er-Jahren in verschiedenen europäischen Ländern. Ihr Erkennungsmerkmal ist damals wie heute das Peace-Zeichen und das Datum hat den Friedensmärschen auch den Namen gegeben: Ostermarsch.

Dieses Jahr hatten die Ostermärsche in Deutschland einen besonderen Zulauf. In mehr als 100 deutschen Städten wurde für Abrüstung demonstriert, so auch in Büchel, wo US-Atomwaffen lagern. Im Übrigen ist es bei Weitem nicht nur ein Gefühl der Friedensbewegten, welches mit Sorge auf das nukleare Aufschaukeln blicken lässt.

@Getty ImagesDie „Doomsday Clock” ist eine symbolische Uhr des „Bulletin of the Atomic Scientists” und sie soll zeigen, wie nahe die Welt am Abgrund steht. 2018 wurde auf zwei vor zwölf gestellt. Eine halbe Minute bedenklicher als im Jahr davor. 2010 war’s noch sechs Minuten vor zwölf und selbst nach 9/11 war es sieben vor Mitternacht. Auf einem der Höhepunkte des Kalten Krieges – 1984 – war es weniger gefährlich als heute. Nur 1953 – die Wasserstoffbombe war in aller Munde – war es so brenzlig wie momentan.

Wer und warum?
Mit den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea zählt man heute neun Nuklearmächte. Die USA und Russland vereinen etwa 92 Prozent aller Sprengköpfe. Doch warum gab und gibt es Atomwaffen überhaupt? Viele Argumente erinnern – immer noch oder schon wieder – an den Kalten Krieg. Abschreckung, strategischer Vorteil, Ausgleich und Ergänzung der Schwäche konventioneller Waffen, regionale Führbarkeit eines Atomkrieges, Prestige, Vernichtungsoption, vermeintliche Unangreifbarkeit oder auch Schutz vor Regime Change.

Zahlenmäßig sind von fast 70.000 in den 1980er-Jahren noch gut ein Fünftel der Sprengköpfe übrig. Die quantitative Abrüstung geht jedoch mit qualitativer Aufrüstung einher. Zielgenauigkeit oder Sprengkraft geht vor schiere Menge. Es geht dabei nicht selten um die Ausweitung von Sicherheit oder Macht. Das Prinzip: Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Nichtweiterverbreitung
Der Vertrag zur Nichtweiterverbreitung (NPT) von Atomwaffen stammt aus dem Jahr 1968 und legt für zwei Gruppen von Staaten Verpflichtungen auf. Staaten ohne Atomwaffen dürfen diese nicht erwerben. Im Gegenzug dürfen diese darauf vertrauen, dass die damals fünf Atomwaffenstaaten (USA, UdSSR, China, GB, Frankreich) „in redlicher Absicht” Verhandlungen zur vollständigen Abrüstung führen. Die Atomenergiebehörde (IAEA) kontrolliert dies und alle fünf Jahre finden Überprüfungskonferenzen statt.

@Militär Aktuell, 123rfDes Pudels Kern: kaum Bewegung bei der vollständigen Abrüstung in den vergangenen 50 Jahren. Ganz im Gegenteil, es sind noch weitere Staaten in den Besitz von Atomwaffen gelangt. Indien und Pakistan haben den Vertrag nicht unterzeichnet und Nordkorea ist ausgetreten. Ein weiteres atomares Minenfeld ist das im Vertrag vorgesehene „unveräußerliche Recht”, ein ziviles Atomprogramm zu betreiben. Nun sind die sogenannte „zivile” und die militärische Nutzung der Atomkraft kommunizierende Gefäße und damit ein Knackpunkt. Folglich wurde vergeblich versucht, dem Iran das Betreiben von Kernkraftwerken zu untersagen. Die „Atoms for Peace” sind – hüben wie drüben – nicht das Ende der Geschichte.

Vom Zivilisierungsprojekt …
Abrüstungsgespräche zwischen den USA und der Sowjetunion beziehungsweise Russland wurden seit Ende der 1960er-Jahre geführt (siehe Kasten). Sie begrenzten nicht nur nukleare Kapazitäten (beispielsweise SALT, START), sondern hatten auch Verbote zum Ziel (etwa Raketenabwehr, Mittelstreckenraketen, Atomwaffentests). Unter den Bedingungen der Bipolarität bis 1989 zweifellos ein Zivilisierungsprojekt.

… zur Multipolarität
Ein Blick auf die vergangenen beiden Dekaden zeigt, warum aus der Blockkonfrontation die Rivalität von heute wurde. Natürlich nicht eins zu eins. Allein zwischen den USA und Russland sind Unstimmigkeiten zahlreich: Kosovo-Krieg, NATO-Erweiterungen, Raketenschild, Irak-Krieg, Krieg gegen den Terror, Libyen-Krieg, NATO-Truppen an der Ostgrenze oder auch die Kriege in Syrien und der Ukraine. Das wechselseitige Misstrauen ist nachhaltig. Dazu kommen seit geraumer Zeit die geopolitischen und geoökonomischen Machtverschiebungen. Chinas neue Seidenstraße integriert Russland und Indien, aber läuft auch ohne die USA.

@Militär AktuellDie 2018 beschlossene „Nuclear Posture Review” der USA benennt die „Rückkehr der Konkurrenz der Großmächte”. Russland modernisiert seine Nuklearpotenziale und China verstärkt die Kapazitäten. Multipolarität reduziert sich also nicht auf die nukleare Frage. Weder China, Indien noch Pakistan sind an die bilateralen Abrüstungsverträge zwischen den USA und Russland gebunden. Die Frage, die sich Washington und Moskau stellen: Warum sich an Verbote und Beschränkungen halten, wenn Peking oder Neu-Delhi außerhalb stehen und sich folglich nicht daran halten müssen? Nationales Interesse sticht Rüstungskontrolle. Beispielsweise bedeutet das Ende des bilateralen Vertrags über Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) eine veränderte Bedrohungslage für Europa. Immer wieder ertönt der Ruf nach einer EU-Atombombe.

Auf dem Spielfeld der Nuklearwaffen ist also Bewegung. Sowohl die Teams, die Spielregeln und das Ziel des Spiels sind strittig. Der Unterschied zwischen Sturm und Verteidigung verwischt sowieso. 2019 ist die atomare Karte auf dem Tisch, als hätte 1989 nicht stattgefunden. Im Lehrbuch schlägt man zur Systematisierung wohl unter „Vertrauensverlust” nach. Die alten und neuen Rivalen vergessen beim heutigen Streben nach eigener Sicherheit zunehmend, jene des Gegenübers mitzudenken. Es mangelt den wesentlichen Spielern an Interesse und Leadership, der Abrüstung eine neue Qualität zu verleihen. Stattdessen drehen die Modernisierung der Atomwaffen und neue Technologien die Rüstungsspiralen nach oben.

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Gefährliche Kettenreaktion: Chinas Nuklearpotenzial beunruhigt Indien. Indiens Potenzial beunruhigt wiederum Pakistan.

Technologische Entwicklungen ermöglichen heute auch den begrenzten Einsatz von Atomwaffen im Gefechtsfeld. „Mini-nukes” werfen die Frage auf, wie Rüstungskontrolle über strategische Waffen hinausgehen kann. Cyberattacken können dann ein Potenzial zum Flächenbrand entwickeln, wenn sich diese gegen Atomwaffenarsenale richten. Eskalation entsteht auch dann, wenn technische Instrumente der Frühwarnung und Überwachung aus dem Netz angegriffen werden.

Verbotsvertrag
Die Macht der Atombombe liegt in ihrem Desaster. Niemand verfügt über ausreichende Möglichkeiten, schwerwiegende humanitäre, medizinische, soziale oder wirtschaftliche Folgen zu kontrollieren. Es geht nicht nur um die Sicherheit für einen Staat oder ein Bündnis, sondern um menschliche Sicherheit.

122 Staaten haben im Juli 2017 im Rahmen der UNO den Verbotsvertrag für Atomwaffen beschlossen. Der Schönheitsfehler: die Atombombenstaaten und ihre Verbündeten sind nicht dabei. Von den 28 EU-Staaten haben nur sechs den Vertrag nicht abgelehnt: die Neutralen und Paktfreien. Für die anderen EU-Staaten überwog die Loyalität mit den USA und der NATO. ICAN hat für sein Engagement 2017 für das Verbot von Atomwaffen den Friedensnobelpreis erhalten.

Die dicken Bretter sind parallel zu bohren. Die wirkungsvollen Vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen in Europa bei konventionellen Waffen brauchen heute ein Äquivalent im nuklearen Bereich. Aber ohne China trägt dies nur beschränkt zur Transparenz bei. Gleichzeitig braucht es ein gemeinsames Nachdenken über Frieden und Sicherheit ohne Massenvernichtungswaffen. Biowaffen sind verboten. Chemiewaffen auch. Der Verbotsvertrag für Atomwaffen liegt zur Ratifizierung auf. Das beantwortet zumindest eine Frage von Donald Trump und John Bolton: Ja, die UNO funktioniert. Wenn man sie lässt.

Quelle@Getty Images, Militär Aktuell, 123rf