Der Vorfall soll sich bereits im zweiten Halbjahr 2021 ereignet haben, wurde aber erst jetzt bekannt: Ein angeblich 30-jähriger chinesischer Raketenwissenschaftler hat sich mithilfe westlicher Dienste samt Familie in die USA abgesetzt. Er soll der Aviation Industry Corporation of China (AVIC) zugearbeitet haben und in oder mit seinem Team mit der Entwicklung der Hyperschall-Gleitfahrzeug-Raketenträgerkombo DF-17 in Verbindung gestanden haben. Das System sorgte im vergangenen Sommer mit einer „Weltumrundung” für internationales Aufsehen.

Verschiedene britische und Defence-Media berichten unter Berufung auf nicht genannte Quellen, dass der Wissenschaftler im September 2021 einen britischen Geheimdienstmitarbeiter in Hongkong kontaktiert und in einem ersten zaghaften Ansatz mitgeteilt habe, dass er bereit sei, detaillierte Informationen über das chinesische Hyperschall-Gleitfahrzeug-System zur Verfügung zu stellen, im Austausch für Asyl für sich, seine Frau und sein Kind. Denn er wäre sich bewusst, dass er bei einer Entdeckung vor einem Erschießungskommando stehen würde.

Nur wegen übergangener Beförderungen?
Der Agent kontaktierte sogleich den britischen Geheimdienst MI6, der – angesichts des angelaufenen neuen Wettrüstens rund um Hyperschallwaffen und einem behaupteten diesbezüglichen „Hinterherhinken” der USA und des Westens – auch die CIA informierte. Ein fünfköpfiges Team (drei Personen vom MI6 und zwei vom CIA), wurden entsandt, um den Wert des Überläufers einzuschätzen und eventuell eine sichere Passage für den Wissenschaftler und seine Familie in die USA zu arrangieren. Es wurde ein Plan ausgearbeitet, nach dem die drei Personen über eine speziell entwickelte Route nach Hongkong reisen würden. Dort angekommen, wurde der Wissenschaftler an einen „sicheren Ort” gebracht, wo er befragt wurde. Da natürlich die Möglichkeit bestand, dass der Mann von chinesischen Diensten „geschickt” sein könnte, entwickelte sich in den Tagen ein als „Katz-und-Maus-Spiel” beschriebener Dialog, bei dem die Referenzen des Wissenschaftlers herausgearbeitet und ausgelotet wurden. Während dieses Prozesses gab der Techniker angeblich an, dass sein Abspringen keine politisch-ideologischen oder Gewissensgründe habe, sondern er mehrfach bei Beförderungen übergangen wurde. Er soll einst in England studiert haben und ein begeisterter Cricket-Fan sein. Jedenfalls könne er ausgewählte Details über Chinas Hyperschallentwicklung sowohl mitteilen als auch in technischen Daten mitbringen. Danach wurde offenbar grünes Licht gegeben, ihn und seine Familie zu einem US-Luftwaffenstützpunkt in Deutschland und dann über Großbritannien in die USA zu fliegen.

@CTV
Das DF-17-System wurde 2019 bei der Militärparade zum 70-jährigen Jubiläum der Volksrepublik China erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Eine der von Express.co.uk zitierten Quellen sagte: „Er war extrem kooperativ. Das ist ein intelligenter Mann, der eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Hyperschallwaffen in China eingenommen hat. Es handelt sich um einen Mann, der Cricketmeisterschaften verfolgt, Jack Daniels dem Lagerbier vorzieht und sich durch die Art und Weise, wie er in seiner Organisation beziehungsweise in der alles beherrschenden Kommuistischen Partei behandelt wurde, verletzt fühlt. Die Tatsache, dass wir nun im Besitz bestimmter Details über die Einsatzfähigkeit dieser Hyperschall-Gleitkörper-Raketenkombination sind, versetzt uns in eine Position, die wir zu diesem Zeitpunkt nicht erwartet hatten. Sein Überlaufen kann es uns ermöglichen, die Verteidigungsprogramme gegen den Einsatz von Hyperschallraketen zu beschleunigen. Das kann uns bis zu zwei Jahre bringen, denn solange könnte es dauern, bis China seine Systeme optimiert und diese Geheimdienstinformationen ineffektiv macht. Und zwei Jahre sind in diesem High-Tech-Bereich eine lange Zeit.”

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„Toxische” Arbeitskultur?
Lin Feng, ein chinesischer Kommentator, der mehrere Jahre in militärischen Staatsunternehmen gearbeitet hat, hat nun auf TFIGlobal behauptet, dass die Flucht von einem von Chinas besten Raketenmännern möglicherweise nicht die letzte sein könnte. Laut Feng zeichne sich sogar ein Exodus von Spitzenwissenschaftlern aus China ab. Die Kommunistische Partei hat direkte Kontrolle über Staatsunternehmen, wobei ausschließlich Parteifunktionäre darüber entscheiden, wer in der Organisation eingestellt und befördert wird. Qualifikation, Talent und Leistung(en) zählen gegenüber Ideologie und Parteiarbeit zweitrangig, ein typisches Zeichen der ähnlichen internen Mechanismen jeder Staats- oder Kommandowirtschaft einer Diktatur, von Hitler-Deutschland bis zur alten Sowjetunion. Staatseigene Firmen in China werden laut Li Feng von Rivalitäten und Machtkämpfen „gebeutelt”. Mitarbeiter, die Parteikadern oder der Volksarmee nahestehen, werden oft anderen vorgezogen, man muß Geschenke an Senioren vergeben und sogar eine strikte Tischkultur einhalten. Enge Gefolgsleute von Top-Führungskräften werden demnach – trotzdem oft tagelang am Arbeitsplatz nicht gesehen – mit höheren Gehältern und Beförderungen belohnt. Das sei ein Grund, warum Chinas wissenschaftliches Spitzentalent inzwischen von der Partei desillusioniert ist. Wenn die eigenen Erwartungen nicht erfüllt werden, wenn das Selbstwertgefühl leidet, wird man – zuerst innerlich – unweigerlich rebellisch. Und das habe den chinesischen Top-Raketenmann ermutigt, samt einer Menge geheimer Informationen aus Xi Jinping’s China zu fliehen.

@FAS
Die Gefahr, die von den neuen Hyperschallgleitern (Hypersonic Glide Vehicle = HGV) ausgeht in einem Bild erklärt: Während traditionelle ballistische Raketen einer vordefinierten Flugbahn folgen und in großen Höhen anfliegen, können Hyperschallgleiter in deutlich niedrigeren Bereichen anfliegen. Zudem sind sie schneller und können unterwegs (aktuell noch eingeschränkt) gesteuert werden.

Der beschriebene potenzielle Exodus entspräche einer peinlichen Umkehrung des sogenannten „Tausend-Talente”-Programms der Kommunistischen Partei, unter dem China einst danach strebte, führende im Ausland lebende chinesische Wissenschaftler, Akademiker und Unternehmer nach China zurückzubringen. Dies habe bei Chinas verdecktem Diebstahl von geistigem Eigentum und Cyber-Spionageoperationen geholfen, Chinas Abstand in militärischer Technologie gegenüber seinen westlichen Rivalen immens verringert und in manchen Sektoren sogar an die Spitze gebracht. Aber dank der „toxischen” Arbeitskultur und der unwürdigen Behandlung ihrer Spitzenkräfte könnte sich herausstellen, dass der größte Schlag für Chinas Ambitionen nicht von den USA oder Indien kommt, sondern aus ihm selbst, seinem Volk und seinen Wissenschaftlern.

Chinas Themenführerschaft
Der angebliche Überläufer soll also mit der Aviation Industry Corporation of China (AVIC) verbunden sein, dem staatlichen Luft-, Raumfahrt- und Verteidigungsunternehmen, das für die Entwicklung eines Gutteils an Waffen der chinesischen Luft- und Weltraumstreitkräfte verantwortlich ist. Und das auch unter Nutzung von Cyber-Auslandsspionage, was angeblich zur Verwertung von abgesaugten Daten des F-35 in den Jets der 5. Generation (J-20 und FC-31/J-35) führte. Zwar ist eher nicht bekannt, dass AVIC direkt an ballistischen Raketen oder Hyperschall-Nutzlasten arbeite, damit sind andere staatliche Einrichtungen wie das Aerodynamics Research Institute befasst. Ein Thema für AVIC sind aber die für die Entwicklung benötigten sehr starken und riesigen Windkanäle wie der neue FL-64. Um die Dimensionen in Zahlen zu illustrieren: Laut einer AVIC-Erklärung vom 21. November 2021 geht es bei FL-64 (der Vorläufer FL-63 musste mit dem halben Durchmesser auskommen) um die Simulation von Fluggeschwindigkeiten von Mach 4 bis 8 in einer Höhe von 48.000 Metern (157.480 Fuß) unter einer Gesamttemperatur von 900 Kelvin (626,85 Grad Celsius oder 1.160 Grad Fahrenheit). Zurzeit baut China zudem einen sogenannten JF-22-Hypergeschwindigkeits-Windkanal, der Geschwindigkeiten bis Mach 30 simulieren können soll. Die Anlage sollte heuer baulich fertiggestellt sein. „Der Tunnel wird zusammen mit den zwei bestehenden Maschinen China rund 20 bis 30 Jahre vor den Westen bringen”, so der Wissenschaftler der Chinesischen Akademie der Wissenschaften Han Guilai gegenüber einer Parteizeitung.

@Weibo
Mit Windkanälen wie dem FL-63 hat China zuletzt enorme Fortschritte bei der Entwicklung seiner Hyperschall-Gleiter gemacht.

Jedenfalls sind China mit diesen – jeweils nur rund 30 Sekunden langen – Simulationen zuletzt enorme Pionierleistungen in diesem Bereich gelungen, wie beispielsweise die Entwicklung des angesprochenen Hyperschall-Boost-Gleitfahrzeugs DF-17, das erstmals auf der Pekinger Militärparade 2019 gezeigt wurde. Diese ballistische Mittelstreckenrakete verwendet statt einem Gefechtskopf das DF-ZF Hypersonic Glide Vehicle, das im vergangenen Sommer nach der Seperierung den Erdball umkreiste und „nur” rund 40 Kilometer entfernt vom berechneten Ziel einschlug. Das wäre bei einer – rein theoretisch angenommenen – nuklearen Nutzlast nicht von so großer Bedeutung. Offiziell spricht Peking in dem Zusammenhang übrigens von einem getesteten zivilen Raumschiff. Der Westen befürchtet, dass eine solche Waffe unübliche Anflugrouten beispielsweise von Süden nehmen und dabei manovrierend die Raketenabwehr-„Zwiebel” der USA überwinden könnte. Die Russen haben übrigens laut eigenen Angaben mit dem Avangard ein ähnliches Gleitfahrzeug ebenfalls bereits im Dienst. Hyperschallwaffen (Boost-Glide-Typen oder Hyperschall-Marschflugkörper) bewegen sich fünfmal schneller als die Schallgeschwindigkeit, vielleicht irgendwann sogar bis zu 20 Mal so schnell, wenn die Technologie immer fortschreitet und – zumindest in China offenbar – die dafür benötigten Riesensummen weiter fließen.

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Die Entwicklung ist mit erheblichen Designherausforderungen verbunden, deren Umsetzung beispielsweise europäische Staaten und deren Industrien bereits hinter sich lässt. Ein Problem: Bei diesen sehr hohen Geschwindigkeiten und der immensen Reibungshitze bildet sich eine Plasmahülle um den Flugkörper, die den Empfang von Navigationsleitsignalen blockiert, um die Rakete – was aber gerade den „Reiz” jener Gleitvehikel ausmacht – während des eben nicht wie herkömmlich ballistischen Fluges zu korrigieren. Der von den Chinesen durchgeführte Test, der – wie vorhin erwähnt – das Ziel um 40 Kilometer verfehlte, hatte wahrscheinlich mit dem Problem zu kämpfen, die Plasmahülle mit Führungssignalen zu durchdringen. Das Problem scheint von den Ingenieuren – in Ost wie West – offenbar noch nicht gelöst worden zu sein.

Sollte all das oben Geschilderte stimmen und sich so oder ähnlich tatsächlich zugetragen haben, könnte sich mit Blick auf den vermuteten Vorsprung Chinas bei der Entwicklung entsprechender Waffensysteme nun eine nennenswerte Verschiebung ergeben haben.

Quelle@CTV, Weibo, FAS