Alltäglich um die Mittagszeit wird auf einem der sieben Hügel Roms ein mittlerweile museales Artilleriegeschütz zum Leben erweckt. Wer sich die Mühe macht, sich zur besagten Stunde auf den Gianicolo-Hügel zu begeben, der kommt nicht nur an einen sehr geschichtsträchtigen Platz, sondern kann aus der Nähe den Abschuss der „Cannone del Gianicolo” miterleben. Technisch gesehen ist diese Cannone zwar eine Haubitze, aber da wollen wir nicht päpstlicher als der Papst sein. Die genaue offizielle Bezeichnung beim italienischen Heer lautete „Obice da 105/22  mod.14/61”, sie war für rund ein Jahrzehnt das älteste Geschütz im Arsenal der NATO und funktioniert immer noch tadellos.

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Nach dem Willen von Papst Pius IX. wird seit dem Jahr 1847 um Punkt zwölf Uhr eine Kanone vom Gianicolo blind abgefeuert.

Hintergrund dieser mittäglichen Touristenattraktion ist die Tatsache, dass weiland Papst Pius IX. (1792-1878) an zwei Fronten zu kämpfen hatte. Einerseits gab es da die katholischen Gemeindepfarrer in Rom, die es mit dem Glockenläuten manchmal übergenau nahmen. Viele stellten ihre Kirchenuhren etwas vor, um als erste den Mittag zu verkünden, was Verwirrung stiftete und sich reichlich disharmonisch anhörte. Also ließ der Heilige Vater am 1. Dezember 1847 eine Kanone auf der Engelsburg aufstellen, die weithin hörbar die Mittagsstunde anzeigen sollte. Danach hatten sich dann die Glöckner Roms zu richten. Welche Kanone dafür verwendet wurde, ist heute nicht mehr bekannt.

Aber Papst Pius IX. hatte noch ein wesentlich größeres Problem. Er war auch weltlicher Herrscher über ein ausgedehntes Gebiet in Mittelitalien, den sogenannten „Kirchenstaat”. Und weil dieses Gebilde den italienischen Einigungsbestrebungen sehr im Wege war, die Rom gerne als Hauptstadt eines geeinten Italiens gesehen hätten, geriet auch der Papst in ein schwieriges weltpolitisches Fahrwasser. Unter republikanischen Vorzeichen gelang die Besetzung Roms vorerst nur zeitweilig, der Papst musste die Ewige Stadt 1848 verlassen. 1850 kehrte er aber wieder zurück. Rings um den Kirchenstaat machte die Einigung Italiens derweil weitere Fortschritte, am 18. Februar 1861 wurde in Turin das Königreich Italien ausgerufen mit König Victor Emmanuel an der Spitze. Rom als die angemessene Hauptstadt fehlte aber noch.

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1862 marschierte Giuseppe Garibaldi, der Held der italienischen Einigung (dessen monumentales Reiterstandbild auf dem Gianicolo steht), mit Freiwilligen gegen Rom. Das wollte der französische Kaiser Napoleon III., der sich als Beschützer des Papstes verstand, keineswegs zulassen und übte Druck auf den italienischen König aus. Dessen Armee stoppte Garibaldis Vormarsch. 1867 konnte Garibaldi aber nicht mehr an sich halten, mit 6.000 Freiwilligen (und dem geheimen Einverständnis des italienischen Königs) marschierte er gegen den Kirchenstaat. Das Kaiserreich Frankreich schickte Truppenverbände, und die derart verstärkte päpstliche Armee, in der nur relativ wenige Römer –  und Italiener überhaupt – vertreten waren, schlug die Scharen Garibaldis am 3. November 1867 bei Mentana. Stolz stellte man in Rom erbeutete Waffen und Uniformen der Unterlegenen aus, unter dem hochtrabenden lateinischen Sinnspruch „Non praevalebunt”: „Sie werden nicht bleiben.”

Das taten sie dann aber doch, statt Garibaldis Freiwilligen trat später die königlich italienische Armee unter General Raffaele Cardona an. Das französische Kontingent war 1870 aus Rom abgezogen, der Deutsch-Französische Krieg in vollem Gange. Das erklärt auch, warum Signore Garibaldi diesmal nicht mit von der Partie war: er kämpfte auf der Seite der neugegründeten französischen Republik mit seinen Leuten in den Vogesen.

@Archiv Seehase
Italienische Artillerie in Nordafrika mit Skoda M.14-Geschütz.

Jetzt standen nicht mehr Garibaldis Rothemden in vorderster Front, sondern die Bersaglieri, die Elitetruppe des italienischen Heeres. Sie stürmten die Stadt, nachdem am 20. September 1870 die Geschütze der 3. Batterie des 7. Königlichen Artillerieregimentes in die Aurelianische Stadtmauer nahe der Porta Pia eine rund 30 Meter breite Bresche geschossen hatten. Rom wurde Hauptstadt Italiens, Papst Pius IX. verlagerte seine Energie auf tatsächlich geistliche Belange.

Im August 1903 wurde die päpstliche Salutkanone von der Engelsburg auf die Hänge des Monte Mario versetzt. Am 24. Januar 1904 stellte man das Geschütz dann auf dem Gianicolo auf. Allerdings war es nicht mehr die ursprüngliche Kanone, sondern eines jener Geschütze, die weiland eine Bresche in die Mauer nahe der Porta Pia geschossen hatten. Während des Zweiten Weltkriegs verzichtete man auf das mittägliche Abfeuern des Geschützes. Auch nach dem Krieg hatte man zunächst andere Sorgen.

Anlässlich des 2.712ten Jubiläums der Gründung der Stadt beschloss dann am 21. April 1959 der Magistrat von Rom, dass wieder täglich um die Mittagsstunde gefeuert werden sollte. Dazu verwendete man dann lange Jahre eine „Obice da 149/13”, das war eine erbeutete Škoda-Haubitze im Kaliber 149 mm aus dem Ersten Weltkrieg. Die zeigte nach ein paar Jahrzehnten täglichen Gebrauchs Alterserscheinungen, die Ablösung war allerdings auch schon im Militärdienst ergraut und stammte ursprünglich ebenfalls aus der böhmischen Waffenschmiede.

@Fortepan
Eine Skoda M.14 Haubitze der ungarischen Artillerie im Jahr 1930.

Ab 1915 gehörten Haubitzen des Modells M.14 der Firma Škoda aus Pilsen mit dem Kaliber 100 mm zum Bestand des k.u.k.-Heeres. Sie ersetzten die veraltete Feldhaubitze M.99. Mit einem Gewicht von 1,4 Tonnen (feuerbereit), einer Rohrlänge von 19,3 Kalibern und einer Reichweite von rund 8.000 Metern mit höchster Ladung war die M.14 ein besonders leistungsfähiges Geschützmodell. Die Feldhaubitze wurde im Pferdezug bewegt (sechsspännig) und hatte normalerweise eine Bedienungsmannschaft von sechs Mann. Dieses Geschützmodell machte einen großen Teil der Artillerie der Armee Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg aus. 1916 entstand eine Variante als Gebirgsgeschütz, das in drei Teillasten zerlegt werden konnte („10 cm Gebirgshaubitze M.16”). Der Bedarf war so groß, dass auch die Firma Böhler das Geschütz herstellte. Viele gelangten nach dem Ende des Krieges als Beute in italienische Bestände, Feldhaubitzen M.14 ebenso wie Gebirgshaubitzen M.16. Die offizielle italienische Bezeichnung der Feldhaubitze war „Obice da 100/17”.

Beide Geschütztypen wurden in der ČSR weiterproduziert als vz.14/19 (das Feldgeschütz) beziehungsweise vz.16/19 (das Gebirgsgeschütz). Die vorgenommenen Veränderungen an dem Feldgeschütz vergrößerten das Gewicht ein wenig, steigerten aber die Schussweite auf 9.800 Meter. Sie gehörten zur Ausstattung der tschechoslowakischen Armee und des polnischen Heeres (dort als Wz. 14/19). Auch nach Österreich und Jugoslawien wurden sie exportiert. Im Spanischen Bürgerkrieg setzte das italienische Expeditionskorps (Corpo Truppe Volontarie) eine nicht genau bekannte Anzahl dieser Haubitzen ein, einige wurden danach der spanischen Armee überlassen.

@Archiv Seehase
Skoda-Haubitzen des italienischen Heeres in den 1930er-Jahren.

In Italien konnte die begonnene Modernisierung der Artillerie und die Neuausstattung mit Geschützen eigener Produktion nicht flächendeckend zu Ende gebracht werden, also kaufte man vom verbündeten Deutschen Reich über 400 der Škoda-Geschütze aus tschechoslowakischen beziehungsweise polnischen Beutebeständen an. Auch gelangten Geschütze dieser Typen aus erbeuteten griechischen und jugoslawischen Beständen nach Italien, wo sie als „Obice da 100/22” bezeichnet wurden. Teilweise wurden sie mit vollgummibereiften Rädern für den Kraftzug ausgerüstet. Auch die alten 100/17-Geschütze aus der k.u.k.-Kriegsbeute (immerhin rund 1.200 Stück) wurden so modernisiert.

Bei Eintritt Italiens in den Krieg verfügten das italienische Heer und die paramilitärische Grenzwache (Guardia alla Frontiera) über 1.325 Haubitzen M.14 alias Obice da 100/17 in der alten Konfiguration mit Holzspeichenrädern für den Pferdezug und über 199 modernisierte M.14 mit gummibereiften Stahlscheibenrädern für den Kraftzug, meist durch Zugmaschinen vom Typ Fiat-SPA TL37. Zusätzlich hatten die Alpini 181 Gebirgshaubitzen M.16. Die Armee der Achsenmacht Italien setzte diese Geschütze auf allen Kriegsschauplätzen ein.

Im Wüstenkrieg in Nordafrika wurden schwere Lastwagen vom Typ Lancia 3Ro durch Aufsetzen der Haubitze auf die Ladefläche zu improvisierten Panzerjägern. In Italien und auf dem Balkan übernahm die Wehrmacht viele 100/17-Haubitzen, als sie italienische Einheiten 1943 entwaffnete.

@Archiv Seehase
Polnische Artillerie mit Skoda-Haubitzen.

Viele dieser Geschütze überlebten das Kriegsende und verblieben im Arsenal der neuorganisierten italienischen Armee. In den 1950er-Jahren rüstete das Arsenal von Neapel einige der alten Haubitzen zu Gebirgsgeschützen (zerlegbar in zwei Teillasten) um: es entstanden die Modelle Obice da 100/17 mod.14 mont. und Obice da 100/17 mod.16 mont. Eine Batterie wurde im Rahmen des Corpo di Sicurezza Italiano, der Sicherheitskräfte der italienischen Treuhänderverwaltung in Somalia, in den 1950er-Jahren eingesetzt.

Anfang der 1960er-Jahre wurden sie durch Einziehen eines neuen Rohres mit dem NATO-Standardkaliber 105 mm modifiziert. Es kam auch die von der britischen 25-Pfünder-Kanonenhaubitze bekannte Bodenplatte („Hogg Device”), die Rundumfeuer ermöglicht, dazu. Die Räder übernahm man auch von dem bewährten 25-Pfünder. Dazu kam noch eine Mündungsbremse, die derjenigen der deutschen Feldhaubitze FH 18 sehr ähnlich war. Das Geschütz hieß nun offiziell „Obice da 105/22 mod.14/61”. Bei den italienischen Artilleristen hieß es aber nur „il monstro”, das Monster. Das ist eine hübsche Anspielung auf die Romanfigur Mary Shelleys. Baron von Frankenstein nutzte für seine Kreationen ja bekanntlich auch gebrauchte Teile.

@Rama
Eine auf das NATO-Standardkaliber 105 mm modifizierte Variante der Skoda-Kanone.

Eingesetzt wurde der Geschütztyp für kurze Zeit bei den zwölf Feldartilleriebatterien der Infanteriebrigaden „Aosta”, „Avellino”, „Friaul” und „Trieste”. Mit der Umstellung der italienischen Artillerie auf das NATO-Standardkaliber 105mm war eine Neuausstattung der genannten Verbände notwendig geworden, die als Interimslösung neugefertigte Gebirgshaubitzen bekamen, die dann von den Weltkriegsveteranen abgelöst wurden. Danach dienten die runderneuerten Geschütze bis 1975 bei Reserveeinheiten, dann wurden sie noch bis 1984 in Depots eingelagert.

Exportiert wurden sie erst nach ihrer Dienstzeit, die nach 70 Jahren im Armeedienst zu Ende ging. Empfänger waren dann Militärmuseen, in Belgien findet man sie ab und an. Das hat vielleicht auch mit ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit zu deutschen Geschützen des Zweiten Weltkriegs zu tun, was „il monstro” für Film- und Fernsehproduktionen interessant macht.

Am 1. Januar 1991 kam eine Obice da 105/22 mod.14/61 zum ersten Mal auf dem Gianicolo zum Einsatz. Täglich ziehen Soldaten der Feldartillerie („Gruppo di Artigliera campagnale”) der zentralen Militärregion („Regione Militare Centro”) die Haubitze kameragerecht in Position, laden sie mit einer Salutkartusche und feuern sie ab – bis heute

Quelle@Wikimedia, Archiv Seehase, Fortepan, Rama