Brigadier Johann Frank ist Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik. Wir sprachen mit ihm über hybride Bedrohungsszenarien, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und die Einsparungspotenziale verstärkter militärischer Kooperationen.

Herr Brigadier, in der Ukraine schwelt ein Konflikt mit globalen Dimensionen, im Nahen Osten brennt es lichterloh, Terroranschläge erschüttern Europa und über allem schwebt das Szenario von Cyberattacken. Wie umfassend stellt sich die Bedrohungslage für Österreich und Europa aktuell dar?
Das strategische Umfeld um Österreich und Europa ist so konflikthaft und instabil wie seit den Zerfallskriegen am Balkan nicht mehr. Gleichzeitig ist die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der meisten Staaten und wichtiger Organisationen wie UNO, EU, OSZE und NATO zunehmend unter Druck, woraus sich eingeschränkte Reaktionsmöglichkeiten ergeben.
Von ruhigeren Zeiten in den kommenden Jahren also keine Spur?
Im Gegenteil, die Konfliktszenarien um Europa und teilweise auch in Europa werden zunehmen. In unserer sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2015 haben wir eine Verschärfung des Libyen-Konflikts auf dem Radar und die ist in den vergangenen Wochen auch bereits zu erkennen. Wir gehen außerdem davon aus, dass der Islamische Staat näher an Europa heranrücken wird und dass ein Einfrieren der Konfliktsituation in der Ukraine noch eines der optimistischeren Szenarien sein könnte.
Können die Bedrohungsszenarien in irgendeiner Form gewichtet werden?
Ich glaube, man muss bei den Bedrohungsanalysen und -beurteilungen
einen europäischen Standpunkt einnehmen. In Zeiten der europäischen Integration und der voranschreitenden Globalisierung ist Sicherheit in Europa unteilbar geworden.
Was meinen Sie damit konkret?
Keines der geschilderten Szenarien kann von einem Staat alleine bewältigt werden. Nordeuropäische Staaten müssen die Lage in Libyen genauso als Herausforderung für ihre Sicherheit verstehen wie zentraleuropäische Staaten, wie Österreich, die Entwicklungen in Afrika in ihre Sicherheitspolitik einbeziehen müssen. Nur wenn ein europäisches Verständnis der Gemeinsamkeit der Herausforderungen gegeben ist, sind auch die Voraussetzungen für gemeinsame Handlungsfähigkeit gegeben. Von daher kann man die Krisenherde nicht gegeneinander ausspielen, sie sind aus gesamteuropäischer Sicht gleichwertig und erfordern eine solidarische Beitragsleistung aller EU-Mitgliedsstaaten.
Also auch von Österreich?
Natürlich. Dabei ist aber klar, dass in der Praxis die konkreten Beiträge, die ein Staat zur Bewältigung einzelner Krisen leisten kann, unterschiedlich sind. Unser Schwergewicht wird auf absehbare Zeit der Westbalkan sein, wir müssen aber auch in der südlichen Peripherie und in Afrika solidarische Beiträge leisten. Das gilt auch für eine allfällige größere Friedensmission in der Ukraine.
Wie stark ist dieser Solidaritätsgedanke in Europa aktuell ausgeprägt?
Es ist klar, dass alle 28 EU-Mitgliedsstaaten autonom über ihre Sicherheitspolitik entscheiden können und diese auf unterschiedlichen Rahmenbedingungen aufbaut. Trotzdem kommt man zunehmend zu einer gemeinsamen Bedrohungseinschätzung und Bedrohungswahrnehmung und damit auch zu gemeinsamen Handlungsweisen.
Ist diese Entwicklung schon länger zu beobachten oder ist der aktuelle Ukraine-Konflikt Stein des Anstoßes? 
Das ist schon länger zu beobachten, wobei man aber auch sagen muss, dass die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ein noch recht junges Politikfeld ist. In den rund 15 Jahren, in denen man sich mit dem Thema beschäftigt, konnten trotzdem bereits 30 zivile und militärische Operationen in Afrika, am Westbalkan, am Kaukasus, im Nahen Osten und in Asien durchgeführt werden. Durch diese erfolgreichen Einsätze wächst auch das Vertrauen der Mitgliedsstaaten ineinander und man lernt Krisen gemeinsam zu bewältigen. Man muss in diesem Bereich in langen Zügen denken – Vertrauen entsteht nicht von heute auf morgen.
@Bundesheer/Julia Weichselbaum
Brigadier Johann Frank ist Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik.

Wie sehr sind die sinkenden Verteidigungsbudgets in Europa ein Motor für fortschreitende Solidarisierung?

Die EU-Staaten geben — trotz zuletzt großteils sinkender Budgets — zusammen rund 186 Milliarden Euro für ihre Verteidigung aus, was in Summe erheblich weniger ist, als etwa die USA, aber um einiges mehr als China oder Russland. Berechnungen zufolge könnten durch Kooperationen jährlich Synergieeffekte in Höhe von 13 Milliarden Euro erzielt werden. In einer ersten Reaktion auf die Wirtschaftskrise 2008 war trotzdem vor allem ein Trend in Richtung Renationalisierung der Verteidigungspolitiken feststellbar, auch Kooperationen sind, trotz anders lautender Rhetorik, tendenziell zurückgegangen.
Statt mehr Kooperationen brachte die Wirtschaftskrise also einen Rückgang?
Ja, wobei ich nun in der jüngeren Vergangenheit vermehrt den politischen Willen sehe, auch andere Lehren aus den Budgetentwicklungen zu ziehen und wieder vermehrt auf Kooperationen zu setzen. Dabei muss aber klar sein: Kooperationen sind kein Spar-programm. Wer kooperieren will, muss in die Zusammenarbeit leistungsfähige Beiträge einbringen können.
Ist der in Österreich beschlossene Sonderinvest von 616 Millionen Euro ausreichend zur Bewältigung der geschilderten Bedrohungsszenarien?
Sicherheitspolitisch betrachtet, muss sich der finanzielle Ressourcenaufwand aus den politischen Dokumenten und aus der Beurteilung der Lage ableiten. Ohne den Sonderinvest — und das muss man so deutlich sagen — wären die in der Teilstrategie Verteidigungspolitik definierten Aufgaben in vollem Umfang nicht realisierbar gewesen.
Schließt dies ein, dass man auf die Bedrohungen, die sich immer schneller ändern und verschieben, flexibel reagieren und Schwerpunkte anders gewichten kann?
Da sprechen sie einen wichtigen Faktor an: Wenn es ein Charakteristikum der sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart gibt, dann ist es der Faktor der strategischen Ungewissheit, also der Unvorhersehbarkeit von Entwicklungen. War es im Kalten Krieg noch möglich, seine Planungen auf ein Referenzszenario auszurichten, dann geht das heute nicht mehr. Das zeigt sich besonders deutlich am Phänomen des Terrorismus, der von 9/11 über Breivik in Norwegen und den Anschlägen in Paris in den unterschiedlichsten Formen aufgetreten ist und es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die nächsten Formen terroristischer Attacken wiederum eine andere Gestalt haben werden …
… was die Planungen nicht gerade erleichtert?
Nein und zentrale Ableitung ist es daher, dass man die eigenen Systeme so anpassungsfähig wie möglich gestaltet. Wir können nicht mehr auf ein Referenzszenario hinplanen, sondern müssen das Militär als strategische Handlungsreserve des Staates mit der höchstmöglichen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit für hybride Bedrohungen aufstellen. Und genau darin liegt die Kunst der militärstrategischen Planung der Gegenwart.
Quelle@Bundesheer/Julia Weichselbaum