Sicherheitspolitik im Zeitalter viraler Bedrohungen neu denken und in die strategische Krisenfestigkeit von Staat und Wirtschaft vermehrt investieren. Ein Beitrag von Generalmajor Johann Frank, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement.

Der Kampf gegen pathogene wie digitale Viren wird die Zukunft der Sicherheitspolitik mitbestimmen. Gemeinsam mit Terrorismus und hybriden Bedrohungen bilden Pandemien und Cyber-Angriffe die Quadriga jener Bedrohungen, auf welche die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa neue strategische Antworten finden muss.

Diese Bedrohungsformen weisen trotz aller Unterschiede bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf. Sie sind anfänglich nur schwer erkennbar, sie wirken systemisch auf das gesamte öffentliche und wirtschaftliche Leben, sie sind von grenzüberschreitend-transnationaler Natur und sie werden von den globalisierungsbedingten Verwundbarkeiten moderner Gesellschaften kontinuierlich verstärkt. Auch ihre Wirkungsketten sind ähnlich: Nach anfänglicher Herabsetzung beziehungsweise Ausschaltung der Immunschwelle beginnen sie mit einer anonymen Infektion von Einzelnen, kontaminieren in weiterer Folge Teilsysteme und können letztlich nach einer breitflächigen Infiltration zu einem „Systeminfarkt” führen, der für den Einzelnen den Tod, für strategische Infrastrukturen den Totalausfall, für die Wirtschaft eine tiefe Rezession und für den Staat die Zerstörung seiner Freiheitsordnung bedeuten kann.

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Sicherheitsfaktor: Streitkräfte können einen wichtigen Part einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge übernehmen, müssen dafür aber ihre eigene Durchhaltefähigkeit sicherstellen.

Solange diese Szenarien innerhalb des vorbereiteten Erwartungsraums der jeweiligen gesundheitlichen, technologischen oder militärischen Sicherheitsvorsorgen verlaufen, können sie mit vorhandenen Mitteln und Verfahren bewältigt werden. Das war bislang über weite Strecken der Fall. Übersteigen sie eine strategische Schwelle oder treten gar mehrere Szenarien gleichzeitig ein, so erfordern sie eine neue Qualität in der Vorbereitung und Reaktion, einen Wechsel vom konventionellen Krisenmanagement-Modus hin zu einem „strategischen Resilienzmanagement”. Dazu braucht es geänderte strategische Zielsetzungen, also Erneuerungsfähigkeit statt bloßer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, neuartige Verfahren, also Improvisation und Agilität durch Schaffung neuer ungebundener Ressourcen statt starrem Implementieren von Krisenplänen und bloßem Einsatz von vorhandenen Mitteln und neue Führungsqualitäten, also Visionäre statt Manager.

Im Zeitalter hybrid-viraler Bedrohungen sind zwei bisherige Grundannahmen europäischer Sicherheitsstrategien obsolet geworden, nämlich Vorwarnzeiten und Eintrittswahrscheinlichkeiten. Es gibt keine strategischen Vorwarnzeiten, die in einem konkreten Anlassfall ein Hochfahren von Sicherheitsmaßnahmen zulassen würden, weil lange unklar bleibt, ob ein Angriff, eine Infektion oder eine Infiltration bereits stattgefunden hat. Bewusste Verschleierung ist vielmehr ein Charakteristikum hybrider Angriffe oder von Cyber-Attacken. Und angesichts der hohen Unsicherheiten, was zukünftige Sicherheitsszenarien betrifft, muß Sicherheitspolitik auch Risiken mit niedriger Eintrittswahrscheinlichkeit, aber hohen Auswirkungen angemessen berücksichtigen und als planungsrelevant einstufen und sich auf strategische Überraschungen einstellen. Damit sollte im Fokus zukünftiger Sicherheitskonzepte Prävention und Immunisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf Basis eines umfassenden und europäisch-kooperativ ausgerichteten Resilienzkonzepts stehen. Unter den massiven Eindrücken der Covid-19-Krise besteht die Chance, die Sicherheitspolitik Österreichs neu zu denken und mit Innovationskraft und Kreativität neu zu organisieren.

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Lehren aus der Krise: Im Moment dominiert die unmittelbare Reaktion, mittel- bis langfristig müssen Staaten und Sicherheitsapparate aber ihre Lehren aus der Covid-19-Pandemie ziehen und die Resilienz ihrer Strukturen und kritischen Infrastrukturen sicherstellen.

Hybrid-virale Bedrohungen sind eingebettet in eine sich zunehmend verschärfende geopolitische Konkurrenz, eine sogenannte konfrontative Multipolarität: Mit den USA als der im relativen Niedergang befindlichen Weltmacht, die sich von ihrer Rolle als Weltordnungshüter verabschiedet, einem zunehmend offensiver vorgehenden China, einem selbstbestimmt agierenden, insgesamt aber im Niedergang begriffenen Russland und einer EU, die sich nicht entscheiden kann, ob sie die Kraft zur Bündelung ihrer enormen Ressourcen aufbringt und ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt. Je mehr die transatlantische Gemeinschaft erodiert, desto größer werden die Möglichkeiten Chinas und Russlands, Europa und die USA gegeneinander auszuspielen. Dieser Dynamik liegen insbesondere geoökonomische Entwicklungen zugrunde, denn der Wettstreit dieser vier Akteure wird im Wesentlichen durch den Wettbewerb um Zugang zu und Verfügungsgewalt über strategische Infrastrukturen, Kommunikationsnetzwerke, Rohstoffe, Technologien, Versorgungswege und Lieferketten bestimmt. Im Fadenkreuz stehen dabei primär jene Unternehmen, die für die Versorgungssicherheit in Bereichen wie Energie, Gesundheit, Ernährung, Digitalisierung und anderen Hochtechnologiesegmenten entscheidend sind. Ohne Schutz dieser strategischen Unternehmen und der Wirtschafts- und Versorgungsketten kann es weder eine strategische Krisenfestigkeit (Resilienz) noch eine strategische Autonomie Europas geben.

Resilienz ist das Ergebnis von robuster Widerstandsfähigkeit und agiler Anpassungsfähigkeit. Strategische Krisenfestigkeit erfordert daher, dass der Staat einerseits Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft durch robuste Schutzmaßnahmen und Notprogramme abfedert. Andererseits muss der Staat auch in eine aktivierende Rolle schlüpfen, die Wirtschaft, Gesellschaft und den einzelnen Bürger darin befähigt, Risiken künftig selber besser erkennen und bewältigen zu können. Diese Form der strategischen Krisenfestigkeit setzt ganz besonders darauf, die Fähigkeit zur Antizipation auszubauen, um die Ursprünge möglicher strategischer Schocks frühzeitig zu erkennen. Risikoanalyse ohne sicherheitspolitische Maßnahmen ist aber nutzlos. Es reicht nicht aus, Risiken zu erkennen, Risikobeurteilung muss auch in konkrete politische Maßnahmen umgesetzt werden.

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Terroranschläge können ebenso wie Pandemien und Cyber-Attacken die Wirtschaft eines Landes in eine tiefe Rezession stürzen und zur Zerstörung der Freiheitsordnung eines Landes führen.

Schocks werden zunehmen – ob als Folge einer Pandemie, eines Naturereignisses oder der Exportkontrolle kritischer Rohstoffe beziehungsweise Technologien. Ohne strategische
Krisenfestigkeit sind Wirtschaft und Standortattraktivität unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt. Das erfordert ein Umdenken: Der Staat sollte Anreize schaffen, damit Unternehmen stärker in die Sicherheit investieren, beispielsweise durch gemeinsame Bevorratung kritischer Komponenten, die Förderung von Forschung und Technologie oder die Abnahme neuer Sicherheitsprodukte als Erstkunde. Für Unternehmen werden strategische Reserven, die die Krisenfestigkeit der Betriebsabläufe und der Lieferketten gewährleisten, zu einem Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb, denn sie sichern die Leistungsfähigkeit auch in außerordentlichen Lagen. Staat und Wirtschaft brauchen eine neue Form des strategischen Dialogs, um diese Aspekte gemeinsam zu diskutieren und neue Sicherheitsansätze zu entwickeln. Der Wunsch nach nationaler Krisenfestigkeit wird Post-Covid lauter; ebenso die Versuchung, diesen Wunsch für protektionistische Maßnahmen, Renationalisierung und Isolationismus zu instrumentalisieren. Genau das wäre jedoch dem Ziel einer neuen strategischen Krisenfestigkeit abträglich, denn Protektionismus untergräbt Diversität und nur vernetzte Staaten, Wirtschaftssysteme und Gesellschaften sind resilient. Gleichzeitig muss der Staat Sicherheitspolitik als strategische Gestaltungsaufgabe verstehen, die mit entsprechenden Mitteln unterlegt wird, nicht als politisches Randgebiet, dessen Bedeutung und Umfang sich nach den Prioritäten anderer Politikfelder bemisst.

Wie immer bleibt aber die Frage nach der Gewichtung des Sicherheitssektors bei kommenden Budgetdebatten von wesentlicher Bedeutung. Dabei sollte die Erhaltung der österreichischen Sicherheitswirtschaft in Kombination von staatlicher Hilfe und unternehmerischer Innovationskraft im Fokus stehen. Und angesichts der Erfahrungen vergangener Finanz- und Wirtschaftskrisen wäre eine immunisierende Schutzimpfung für nationale und europäische Verteidigungsbudgets eine Grundbedingung für eine sicherheitspolitische Erneuerung. Das nicht nur wegen der breit anerkannten Leistungen des Bundesheeres in der aktuellen Krise, sondern weil in allen Risikoszenarien das Bundesheer immer als die strategische Handlungsreserve und als die für die Resilienz unverzichtbare Institution beurteilt wurde. Diese Aufgabe kann das Bundesheer aber nur erfüllen, wenn es selbst eine resiliente Organisation ist.

Zur strategischen Krisenfestigkeit von Staat und Gesellschaft siehe auch Heiko Borchert und Johann Frank, NZZ-Gastkommentar vom 10. Mai 2020.

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Seit April 2020 ist Johann Frank Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement. Davor war er sechs Jahre lang der Sicherheitspolitische Direktor des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik. Seit 2014 war er darüber hinaus beratendes Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat sowie dem Rat für Integration und Außenpolitik der Republik Österreich.