Im September des vergangenen Jahres übernahm die deutsche Luftwaffe wieder einen Teil des „Verstärkten Luftpolizeieinsatzes im Baltikum”. Militär Aktuell-Autor Georg Mader hat am Luftwaffenstützpunkt Ämari einen Blick hinter die Kulissen des Einsatzes geworfen.

Bekommen die Piloten dann und wann russische Maschinen zu sehen?” Der estnische Kommandant der Luftwaffenbasis Ämari, Oberstleutnant Ülar Löhmus, lächelt. „Regelmäßig”, sagt er beim Besuch von Militär Aktuell. „Wir haben hier seit dem Jahr 2014 zwei bis drei durch russische Maschinen ausgelöste Alarmstarts – pro Woche.”

Schon 2004 übernahmen mit dem NATO-Beitritt von Estland, Lettland und Litauen Bündnis-Staaten vom litauischen Stützpunkt Zokniai aus die Überwachung und Sicherung des baltischen Luftraums. Bis 2013 verliefen die Einsätze aber weitgehend unspektakulär, damals zählten die rotierenden NATO-Kontingente von Jänner bis Dezember gerade einmal 46 „Alphas“ (echte Alarmierungen). Der Ukraine-Konflikt und der rauer gewordene Ton zwischen Ost und West ließ dann 2014 die Zahl sprunghaft auf 138 Alarmstarts steigen. Im Jahr darauf waren es dann sogar 153, 2016 lag die Zahl bei 100 und 2017 bei 130. Im vergangenen Jahr ging es in ähnlicher Tonart weiter: Von Jänner bis August 2018 zählten die Alliierten 85 „Alphas”. Anschließend übernahm die deutsche Luftwaffe mit Eurofighter der Jagdgeschwader 74 und 71 einen Teil des „Verstärkten Luftpolizeieinsatzes im Baltikum”. Bis zum Besuch von Militär Aktuell Mitte November kamen weitere 28 „Alphas” hinzu.

LUFTAUFNAHME Die hier begleitete Iljuschin-20 (NATO: Coot-A) ist eine militärische Kleinserie des alten Verkehrsflugzeuges Il-18, mit vielen Antennen und Sensoren zur Aufklärung gegnerischer Funk- und Radarsignale (SIGINT).
Die hier begleitete Iljuschin-20 (NATO: Coot-A) ist eine militärische Kleinserie des alten Verkehrsflugzeuges Il-18, mit vielen Antennen und Sensoren zur Aufklärung gegnerischer Funk- und Radarsignale (SIGINT).

Warum Estland, Lettland und Litauen ihren Luftraum nicht selbst schützen? Weil es ihnen dafür schlichtweg an Kapazitäten und Möglichkeiten fehlt. Nach dem Prinzip der kollektiven Verteidigung übernehmen die Aufgabe in so einem Fall andere NATO-Mitglieder, die betroffenen Länder müssen sich allerdings an den Kosten der alliierten Einsätze beteiligen und ihre Luftraumüberwachungs- sowie Flugverkehrsmanagementsysteme zeitgemäß adaptieren. Die Missionen werden im Rahmen des integrierten Luft- und Raketenabwehrsystems der NATO geführt, kontrolliert vom Combined Air Operations Center (CAOC) im deutschen Uedem. Die Alarmierungszeit liegt normalerweise bei 15 Minuten.

Zu sehen bekommen die alliierten Jets in der Luft laut Auskunft von Luftwaffenpiloten von schwer veralteten Tu-134 bis hin zu brandneuen Typen wie der Su-35 praktisch das gesamte Arsenal der Vozdushno-Kosmicheskiye Sily (russische Luftstreitkräfte, kurz VKS). Diese begehen kleinere oder größere Luftraumverletzungen, fliegen „Abkürzungen” über das Hoheitsgebiet der drei baltischen Staaten oder identifizieren sich nicht ordnungsgemäß, was Zivilflugzeuge in Bedrängnis bringen könnte. Warum die Crews ihre Transponder absichtlich abschalten, ist unklar, auf den Primärradars der Militärs tauchen die Maschinen schließlich ohnehin auf. In manchen Fällen dürfte es russischen Piloten mit ihrem Verhalten aber wohl darum gehen, mit AIM-120 (BVR) und IRIS-T (WVR) bewaffnete Eurofighter anzulocken, um sie aus der Nähe fotografieren zu können.

Aber auch die NATO-Piloten nutzen die Einsätze, um Informationen über potenzielle Gegner zu sammeln. Konkret gelang dies beispielsweise am 14. September des Vorjahres bei einer Begegnung deutscher Jets mit einer Su-35S über dem finnischen Meerbusen. An dem Tag war die neueste Version der Flanker-Serie gemeinsam mit anderen Flugzeugen unterwegs, als sie plötzlich in Richtung Westen ausscherte und ihr IRBIS-Feuerleitradar auf die NATO-Jets aufschaltete – mehrfach. Die deutschen Piloten hatten dadurch die seltene Gelegenheit wellenelektronische „Fingerabdrücke” der Su-35S zu nehmen, die sie anschließend in die Bedrohungsbibliothek eingespeichert haben. Von Interesse ist für die alliierten Militärs aber beispielsweise auch, inwiefern sich russische Maschinen mit der Zeit verändern. Ob etwa andere Antennen unter dem Rumpf verbaut werden oder andere neue Details und Anbauten erkennbar sind.

@Georg Mader
Die deutschen Eurofighter in Ämari tragen aus Gründen der symmetrischen Lastverteilung immer eine AIM-120 AMRAAM jeweils vorne konformal am Rumpf und entgegengesetzt hinten.

Das im September 2018 nach Ämari verlegte deutsche Kontingent umfasst übrigens rund 160 Männer und Frauen. Sie brachten 140 Tonnen Ausrüstung und Material mit und halten fünf Eurofighter-Einsitzer aus der Tranche-3A klar. Keine Auskünfte gab es auf Fragen nach einem weiteren Teil der deutschen Luftwaffenmission in Estland. Laut einem Online-Medienbericht ist im Land aktuell – wie auch bereits in den Vorjahren – ein sogenannter Luftwaffenerfassungstrupp im Einsatz. Die Sensoren und Antennen des Bataillons für elektronische Kampfführung 912 aus Nienburg sollen aber nicht in Ämari, sondern deutlich näher an der russischen Grenze aufgebaut sein. Und die Aufklärungstechnik soll nun von neuerer Bauart und Generation sein, um im Zuge des NATO Air Policings im Baltikum der eingesetzten Luftwaffe unmittelbar vor Ort ein umfassenderes und aussagekräftigeres Lagebild zur Verfügung zu stellen. Das bislang im Rahmen dieser Einsatzaufgaben eingesetzte Aufklärungssystem wäre in einigen Bereichen angeblich an seine „technologischen Grenzen” gestoßen. Offiziellen Kommentar gibt es dazu aber wie gesagt keinen.

Info: Verstärkter Luftpolizeieinsatz im Baltikum
Als Reaktion auf den rasanten Anstieg der Alarmierungen und des international geächteten Vorgehens Russlands auf der Krim und in der Ostukraine verabschiedete die NATO 2014 einen neuen Bereitschaftsplan (Ready-Action-Plan, kurz RAP). Um rascher und entschiedener auf sicherheitspolitische Herausforderungen an seinen Grenzen reagieren zu können, erhöhte das Bündnis die militärische Präsenz in den baltischen Staaten und in Polen – die Luftraumüberwachung wurde intensiviert. Mit Ämari in Estland nahm die NATO infolgedessen einen zweiten Luftwaffenstützpunkt in der Region in Betrieb. Von Ämari und Zokinai aus werden seitdem je vier Kampfflugzeuge eingesetzt, von denen zwei auf QRA-Bereitschaft (QRA steht für Quick Reaction Alert) sind.

Quelle@Georg Mader, Luftwaffe