Als im Jahr 2015 die Migration nach Europa immer größere Ausmaße annahm, waren viele EU-Länder mit der Entwicklung heillos überfordert. Dabei war vor einer derartigen Situation schon lange davor gewarnt worden – Lösungsvorschläge blieben aber weitgehend ungehört.

@Getty ImagesEuropa wandelte sich in seiner jüngeren Geschichte von einem Auswanderungs- zu einem Zuwanderungskontinent. Großteils erfolgte der Zuzug auf legalem Weg, in Teilen aber auch illegal. Da die erlaubten Zugänge immer restriktiver werden, der Bedarf aber gleichzeitig steigt, suchen immer mehr Menschen nach illegalen Schlupflöchern, um ans Ziel ihrer Träume zu gelangen. Zudem werden immer mehr Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und suchen Zuflucht auch in europäischen Ländern. Vor allem in den Regionen östlich, südöstlich und südlich der Europäischen Union verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den vergangenen Jahren teils massiv. Das Bevölkerungswachstum dort ist hoch, dem meist überdurchschnittlich hohen Jugendanteil stehen nur ungenügend Ressourcen zur Verfügung. Dazu kommen Arbeitslosigkeit und Korruption, Armut und Hunger, Klimaverschlechterungen einhergehend mit Katastrophen, gewaltsame Konflikte sowie gescheiterte Staatsordnungen. Die Hemmschwelle, ihre Heimat zu verlassen, ist vor diesem Hintergrund für viele Menschen nicht sehr hoch und moderne Informations- und Kommunikationstechnologien als Verbindung zu der schon im Ausland lebenden Diaspora, vielfältige Transportmittel und -wege sowie das sehr lukrative Schlepperwesen erleichtern Migrationswilligen diesen Schritt noch.

Legt man diese Push- und Pull-Faktoren einer Potenzialbeurteilung zugrunde, so stehen an deren Ende mehrere Millionen Migrationswillige mit Ziel Europa, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Reise antreten – die Fachleute sprechen von einem „Mixed Migration Flow“. Betrugen die Asylwerberzahlen in der EU in den Jahren 2002 bis 2013 im Durchschnitt jährlich rund 290.000 Menschen, schwollen sie 2015 vor allem aufgrund der gewaltsamen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika auf rund 1,3 Millionen (die Zahlen für Österreich liegen bei 88.300) an, um in der Folge nicht wegen eines abnehmenden Bedarfs, sondern aufgrund verschiedener Gegenmaßnahmen der EU und ihrer Mitglieder wieder zu sinken. Prekär wurde die Lage deshalb, weil Migranten sich nur einige Länder der EU als Zielland aussuchten. Außerdem wurde nach einem umfassenden rechtsstaatlichen Verfahren auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt, dass über die Jahre nur rund die Hälfte der Werber tatsächlich schutzberechtigt waren und der Rest eigentlich wieder ausreisen hätte müssen.

Durch den plötzlichen Massenansturm waren die Institutionen sowie die Bevölkerung der EU und auch Österreichs teilweise überfordert. Auswirkungen ergaben sich auf die demografische und religiöse Struktur ebenso wie auf die Kultur, die Wirtschaft, den Staatshaushalt, das Bildungssystem, die Sicherheit und den Gesundheitsbereich eines Aufnahmelandes, die sich als Chancen aber auch Risiken manifestieren. Um die Zuwanderung für eine Gesellschaft bewältigbar zu machen, ist jedenfalls eine bedarfs- und humanorientierte Steuerung notwendig.

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Fluchtrouten nach Europa gibt es für Flüchtlinge und Migranten aus Afrika viele – die wohl gefährlichste führt über das Mittelmeer. Alleine im heurigen Jahr sind laut offiziellen Zahlen mehr als 2.000 Menschen auf diesem Weg ertrunken.

In diesem Zusammenhang wirft man „der EU“ gerne Versagen vor. Es ist aber eher so, dass die EU-Institutionen schon seit Langem die Herausforderungen erkannt und Lösungsvorschläge (unter anderem Empfehlungen von Tampere 1999, Haager Programm 2004) unterbreitet haben, einzelne Mitgliedsstaaten aber immer wieder anlassbedingt ausscherten. An dieser Stelle muss auch auf das große EU-Ziel des freien Personenverkehrs hingewiesen werden. In Umsetzung desselben muss über allen Mitgliedsstaaten ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen aufgebaut werden. Daher müssen die EU-Außengrenzen kontrolliert, die Einwanderung, das Asyl sowie die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität geregelt werden. Dies sollte auf der Grundlage von Solidarität entwickelt werden. In der letzten Phase der europäischen EU-Migrations- und Asylgeschichte wurde versucht, Migrationspolitik als gemeinschaftliches Politikfeld zu eta­blieren, was zwischen den Polen „Eigeninteresse“ und „Solidarität“ aber schwierig ist. Um Migration trotzdem steuern zu können, wurde im Laufe der Jahre ein Zwiebelschalensystem von den Herkunftsländern bis in das Territorium der EU entwickelt, das unterschiedlichste Maßnahmen zusammenfasst:

• Bekämpfung der Ursachen (Push-Faktoren) illegaler Migration in Partnerschaft mit den Herkunftsländern

• Unterstützung von nahe den Herkunftsländern liegenden überforderten Zielländern

• Optimierung der legalen Zuwanderungsmöglichkeiten in Partnerschaft mit den Herkunftsländern unter Berücksichtigung von selbst- bestimmten Prioritäten der Aufnahmestaaten

• Optimierung des UN-Resettlements (Umsiedlung aus überforderten Ländern in aufnahmebereite Länder)

• Bekämpfung von Menschenschmuggel und -handel

• Rettung von Menschenleben und humanitäre Hilfe an Migrationsrouten • Optimierung des EU-Außengrenzschutzes (unter anderem FRONTEX)

• Etablierung eines „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ mit einheitlichen Standards • abgestimmte Rückführung nicht Bleibeberechtigter

• Unterstützung von betroffenen EU-Mitgliedsstaaten: Verteilung (Relocation), Finanzhilfen, …

• Optimierung der Integration für Bleibeberechtigte

Unter Hinweis auf die Pull-Faktoren sollte außerdem die Diaspora in den Aufnahmeländern in die Überlegungen eingebunden werden. Im Wesentlichen rankten sich bis dato alle Diskussionen um diese Maßnahmen, wobei immer wieder einzelne als Allheilmittel erkoren wurden. Es ist aber klar, dass angesichts des riesigen Migrantenpotenzials nur die Anwendung des gesamten Pakets zum langfristigen Erfolg führen kann. Entscheidend dabei ist jedenfalls ein koordinierter gesamtgesellschaftlicher Ansatz unter Einbeziehung aller staatlichen wie nichtstaatlichen Akteure auf allen Ebenen. Der Autor ist Mitarbeiter am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar „Migration verlangt mehr Ernsthaftigkeit!” von IFK-Leiter Brigadier Walter Feichtinger.

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