Der russische Präsident Wladimir Putin hat in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik an der NATO und ihrer Osterweiterung geübt und diese auch für die Eskalation des Konflikts in der Ukraine mitverantwortlich gemacht. Nun hat aber ausgerechnet Putin selbst mit seinem Angriff auf die Ukraine das transatlantische Militärbündnis gestärkt und möglicherweise eine Erweiterung unmittelbar an seiner Grenze ausgelöst – die bislang neutralen beziehungsweise blockfreien Länder Schweden und Finnland drängen jedenfalls vehement in die NATO. Schon jetzt erhalten die beiden Länder erweiterte NATO-Aufklärungsergebnisse.

Infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist in beiden Ländern – über Jahrzehnte „Lichtgestalten” als neutrale Vorbilder Österreichs – zuletzt die Zustimmung zu einem NATO-Beitritt stark gestiegen und der – krisenbedingt nun doch noch ein Jahr im Amt bleibende – norwegische NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg machte Stockholm und Helsinki bereits Mitte März Hoffnungen auf einen schnellen Beitritt. „Beide Länder erfüllen die Standards des Verteidigungsbündnisses. Wenn sie sich für einen Antrag entscheiden, erwarte ich, dass alle Verbündeten sie willkommen heißen werden”, so Stoltenberg. Von russischen Drohungen wolle sich das Bündnis dabei nicht beeindrucken lassen. Denn eine bittere Lehre aus dem Ukraine-Krieg ist auch, dass es den Frieden nicht sichert, wenn man einem Land den NATO-Beitritt verweigert.

Die Sache liegt im aktuellen Fall aber anders als in der Ukraine, denn die beiden Länder sind als EU-Mitglieder schon Teil des westlichen Lagers, sogar mit Beistandsklausel. Sie sind westlich gerüstet – Finnland hat sich kürzlich für 64 F-35A entschieden – und sie unterhalten zur NATO enge Beziehungen, die Aufnahme in die Allianz würde ihnen vor allem eine US-amerikanische Schutzgarantie einbringen. Und die Zeitung „Aftonbladet” will unterdessen aus Stockholmer Regierungskreisen auch bereits von einem konkreten Schutzversprechen „unter anderem der USA und Großbritanniens an Schweden und Finnland und zwar schon während des Beitrittsprozesses” erfahren haben. Vor einigen Wochen hatte auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson nicht näher definierten „Beistand” zugesichert.

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Das alles sind Schockwellen einer „Zeitenwende”, die deren Auslöser so wohl nicht auf dem Radar hatte. Denn diese bisher sicherheitspolitische „Verinnerlichung” könnte nun nahezu in Rekordtempo fallen: Unbestätigten skandinavischen Medienberichten zufolge wollen die beiden Länder noch im Mai einen Aufnahmeantrag stellen. Geplant ist angeblich sogar ein gemeinsames Beitrittsersuchen. Damit kämen die Regierungen in Stockholm und Helsinki einem in Umfragen (siehe unten) immer wieder bestätigten Wunsch der Bevölkerung nach gemeinsamem Vorgehen entgegen. Schweden und Finnland pflegen – beispieslweise auch im Luftbereich – eine historisch gewachsene enge Beziehung. Berichtet hatte von einem angeblich schon weit gediehenen gemeinsamen Beitrittsplan zunächst die finnische Zeitung „Iltalehti”. Später zog das schwedische Boulevardblatt „Expressen” nach. Stockholmer Regierungsquellen hätten demnach die Berichte aus Finnland bestätigt. Zwischen 16. und 22. Mai sei ein gemeinsamer Antrag anvisiert, hieß es.

Die Umfragen
Noch zu Jahresbeginn 2022 lagen in diversen Umfragen die Pro- und Contra-NATO-Lager Schwedens fast gleichauf. Nach drei Wochen Ukraine-Krieg sprachen sich aber bereits 47 Prozent der Schweden für und nur mehr 30 Prozent gegen einen Beitritt aus. Anfang März lag der Befürworter-Anteil Anfang dann bereits bei 49 Prozent und am 7. März bei 51 Prozent, zuletzt im April dann sogar bei 57 Prozent – der höchsten jemals verzeichneten Unterstützung der Schweden für einen Beitritt zum Sicherheitsbündnis. Im Zuge der aktuellen innenpolitischen Diskussionen hat sogar die rechts-populistische Schwedendemokraten-Partei, die seit langem gegen eine NATO-Mitgliedschaft war, einen Schwenk in ihrer Position vollzogen. Parteichef Jimmie Akesson sagte zum „Svenska Dagbladet”, dass er den Widerstand gegen die NATO aufgeben werde, wenn Finnland ebenfalls beitritt. Damit würde es eine Mehrheit im Reichstag geben. Auch führende Personen der Grünen Partei und sogar der regierenden schwedischen Sozialdemokraten, die beide historisch immer gegen einen NATO-Beitritt waren, haben nach Kriegsbeginn ihre Unterstützung dafür bekundet.

Ukraine: Das Kriegsgeschehen im Zeitraffer

In Finnland hat der öffentlich-rechtlichen Sender YLE sogar eine noch klarere Mehrheit für einen möglichen NATO-Beitritt ermittelt, auch dort ein historischer Höchststand. Ende März wies eine Erhebung unter 1.400 Befragten einen Zuspruch von 62 Prozent aus – und sollte Schweden mitziehen, würden sogar 77 Prozent der Finnen einen NATO-Beitritt ihres Landes befürworten. Der Gang Finnlands (das Land hat in den 1940er-Jahren mit dem Winterkrieg und dem Fortsetzungkrieg übrigens gleich zwei Kriege gegen Russland geführt und musste mit Vyborg letztlich auch Territorium abtreten) in das Bündnis würde Moskau übrigens eine 1.340 Kilometer lange NATO-Grenze bescheren.

Noch im Jänner meinte die finnische Regierungschefin Sanna Marin, dass ihr Land während ihrer bis ins Jahr 2023 dauernden Amtszeit bestimmt kein Beitrittsgesuch stellen werde. Bloß zwölf Wochen später, sagte sie nun: „Mit der Invasion Russlands in die Ukraine hat sich die Haltung der Finninnen und Finnen dramatisch verändert. Deshalb müssen wir in den nächsten Wochen über unsere Sicherheit sprechen. Dazu gehört auch über eine NATO-Mitgliedschaft zu sprechen.”

Finnlands Präsident Sauli Niinistö sieht für den Fall der Fälle keine Notwendigkeit eines Referendums. Es sei „sehr deutlich, dass die Bevölkerung mehrheitlich hinter einem Beitritt des Landes zu dem Verteidigungsbündnis steht”, sagte Niinistö in einem Interview mit YLE. Bis Ende des vergangenen Jahres habe er dazu noch eine andere Meinung gehabt, diese habe er in der Zwischenzeit aber revidiert. Niinistö rechnet nun mit einer „zügigen Entscheidung – und einer gewaltigen parlamentarischen Mehrheit für einen entsprechenden Antrag.” Eine Voraussetzung für einen Beitritt sei aber, dass sich Finnland in dieser Frage mit Schweden abstimme und die beiden Länder zu demselben Schluss kämen, so Niinistö weiter. Er habe sich dazu bereits mehrfach mit der schwedischen Premierministerin Magdalena Andersson – welche neulich meinte, dass Stockholm bereits seit dem EU-Beitritt „nicht mehr wirklich neutral sei” – beraten.

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Finnlands Premierministerin Sanna Marin und die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson.

Schweden
Ein weiteres mögliches Indiz dafür, dass es auch hier nun schneller gehen könnte: Ursprünglich sollte ja ein Parlaments-Gutachten zu einem möglichen Beitritt Schwedens am 31. Mai vorgelegt werden. Der Termin wurde nun auf 13. Mai vorverlegt. Außenministerin Ann Linde sprach im öffentlich-rechtlichen Radio SR von „wachsendem Druck”. Jedenfalls ist beim westlichen Nachbarn Finnlands seit dem 24. Februar ebenfalls eine breite Debatte über die sicherheitspolitische Ausrichtung und einen möglichen NATO-Beitritt entbrannt. Der Angriff auf die Ukraine habe nicht nur der Ukraine gegolten, so Andersson, „sondern auch der europäischen Sicherheitsarchitektur”. Ihre Regierung steht einer potenziellen Mitgliedschaft zwar noch eher distanziert gegenüber, ein parlamentarischer Beratungsprozess zum Thema Verteidigungsstrategie ist aber am Laufen. Dabei darf man nicht außer acht lassen, dass die Lage in Scheden deutlich komplexer ist, als auf der anderen Seite der Ostsee. Generell ist das bürgerliche Lager des Landes dem Bündnis weitaus zugetaner, links der Mitte gibt es aber in starker pazifistischer Tradition im lange sozialdemokratisch geprägten Schweden größere Bedenken. Und die Geschäfte führt jetzt eben wieder eine sozialdemokratische (fast schon traditionelle) Minderheitsregierung, deren Tolerierungspartner aber in Sachen NATO bisher uneins waren. Auch die Sozialdemokraten selbst waren beim Thema traditionell zurückhaltend. Ein schwedischer Minister äußerte unterdessen laut SR offen eine „Neigung” in Richtung NATO-Beitritt. Die Begründung von Sozialversicherungsminister Ardalan Shekarabi gab durchaus Einblick in die Debatte seiner sozialdemokratischen Partei: Staaten außerhalb des NATO-Schutzes müssten noch stärker aufrüsten, argumentierte er. Der Stockholmer Forscher Jonathan Feldman kritisierte währenddessen die schwedischen Waffenlieferungen (unter anderem 5.000 Panzerabwehrlenkwaffen) an die Ukraine als einen Fehler. Denn Schweden habe damit seine Fähigkeit als Vermittler aufs Spiel gesetzt. Debattiert wird auch, ob ein Beitritts-Ansuchen das Land nicht erst zur „Zielscheibe” Russlands machen könne.

Die kleinen NATO-Anrainerstaaten südlich der beiden Länder würden einen Beitritt jedenfalls begrüßen. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte in einem Interview mit dem schwedischen Radiosender EKOT: „Das würde uns stabilisieren. Es würde eine klare Botschaft aussenden, dass wir militärischen Drohungen nicht nachgeben. Wenn Schweden und Finnland beitreten sollten, würde das die Sicherheit in der ganzen Region erhöhen.”

Risken in der Beitrittsphase
Wegen alldem sind aus dem Kreml tatsächlich schon Drohungen zu hören und Drohgebärden wie eine Luftraumverletzung durch mit Atomwaffen bestückte Kampfflugzeuge gesetzt worden. Das beweist, dass es nicht ohne Risiko wäre, sollte die Allianz ihre Grenze zu Russland verlängern. Schwierig könnte vor allem die Beitrittsphase werden, weil Wladimir Putin versuchen könnte, durch hybride Aktionen, Cyberattacken oder einen territorialen Übergriff – aber auch einen potenziellen Waffeneinsatz auf See – Hindernisse zu schaffen. Das würde jedenfalls der aus Georgien und der Ukraine bekannten Vorgangsweise Russlands entsprechen und könnte einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands sogar verhindern – das Bündnis darf laut selbst auferlegter Regeln keine Länder mit einem militärischen Grenzkonflikt aufnehmen, da dieser anschließend sofort einen NATO-Bündnisfall auslösen würde. Die Frage ist, wie weit derartige Einwände heute in der Allianz Gehör finden oder gewichtet werden. Stoltenberg dazu dass Russland die Zeit zwischen einer möglichen Bewerbung und der endgültigen Aufnahme für einen Angriff auf die Länder nutzen könnte: „Kein Argument gegen einen Beitritt. Ich bin sicher, wir werden Wege finden, um Bedenken bezüglich der Zeit zwischen einem möglichen Antrag und der endgültigen Ratifikation auszuräumen.” Über Details dazu wolle er allerdings in der Öffentlichkeit nicht sprechen.

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Angst vor Atomwaffeneinsatz
Die russische Regierung hatte nach Kriegsbeginn ihre Nuklearstreitkräfte – die NATO beurteilte diesen Schritt aber als reine „Routinemaßnahme” – in erhöhte Bereitschaft versetzt und mehrfach betont, sie könnte im Falle einer „existenziellen Bedrohung Russlands” tatsächlich Nuklearwaffen zum Einsatz bringen. Kreml-Sprecher Dmitiri Peskow verneinte gegenüber dem britischen Sender „Sky News” zwar, dass es sich bei einem Beitritt der beiden skandinavischen Länder um eine solche „existenzielle Bedrohung” Russlands handle. Zugleich betonte er aber, dass man bei so einem Erweiterungsfall die Situation „neu ausbalancieren” und seine westliche Flanke stärker schützen müsse. Etwas deutlicher wurde mit Sergej Beljajew ein Mitarbeiter von Sergej Lawrows Außenministerium gegenüber der Agentur Interfax: „Es wird Vergeltungsmaßnahmen geben, sollte Schweden der NATO beitreten. Ernsthafte militärische und politische Konsequenzen.” Die Replik von Außenministerin Ann Linde: „Schwedens Außenpolitik wird von Schweden bestimmt. Russland hat nichts mit unseren selbstständigen Beschlüssen zu schaffen.”

Landesverteidigung viel zu klein?
Ein wichtiger Aspekt in den aktuellen Diskussionen sind Einschätzungen gleich mehrerer Experten, die das schwedische Militär als zu schwach für längere Kampfeinsätze bewerten, die Durchhaltefähigkeit sei zu gering. „Die schwedische Landesverteidigung ist heute modern und in gutem Zustand – aber sie ist viel zu klein”, sagte Magnus Petersson, Experte für nordische Verteidigungszusammenarbeit gegenüber YLE. Die schwedische Armee und die Heimwehr haben nach offiziellen Angaben 45.000 Kräfte, Reservisten und Teilzeit-Kräfte inbegriffen. Erst vor wenigen Jahren hat man die Aussetzung der Wehrpflicht wieder rückgängig gemacht. Eine schwedische Unterstützung – wie einst im erwähnten Winterkrieg – darf Helsinki im Fall der Fälle wohl eher nicht erwarten. Womöglich auch deshalb könnte sich Finnland nun nicht mehr vorrangig auf seinen Nachbarn verlassen. Und Petersson dann pointiert: „Finnland könnte Schweden als ein Land verstehen, das kneift, wenn es darauf ankommt.”

Andererseits sollen „Schwedens Verteidigungsanstrengungen nun kräftig verstärkt werden”, so Andersson Mitte März. Ihre sozialdemokratisch-geführte Regierung schlug vor, den Verteidigungshaushalt so schnell wie möglich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben, das ist auch die in der NATO lange geforderte Zielmarke. Das wäre dann nach aktuellem Stand ein Budget von etwa 108 Milliarden Schwedische Kronen jährlich, umgerechnet gut zehn Milliarden Euro.

Und Österreich?
Militärisch wenig durchhaltefähig, zu klein? Das sind alles Argumente, mit denen auch hierzulande nun verstärkt eine (deutliche) Aufstockung des Wehretats gefordert wird. Ein möglicher NATO-Beitritt und eine gleichzeitige Aufgabe unserer Neutralität steht aber weiter außer Diskussion, obwohl eine Diskussion (mit offenem Ausgang) angesichts der europäischen „Zeitenwende” durchaus angebracht wäre. Laut einer Statista-Umfrage ist die Zustimmung zur Neutralität in der Bevölkerung seit Beginn des Ukraine-Kriegs sogar noch gestiegen und so halten nun ganze 91 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher die Neutralität demnach für „sehr wichtig” oder „eher wichtig”. Ob sie bereits als Begriff Schutz suggeriert und inwieweit sie (um wie viel Geld?) militärisch „aufgefüllt” werden soll? Nochmals der schwedische Minister: „Staaten außerhalb des NATO-Schutzes müssen noch stärker aufrüsten.”

Quelle@Marek Studzinski on Unsplash, WikiforLive