Wenn die USA und Russland sich streiten, verliert Europa
Der Leidtragende amerikanischer kurzsichtiger Entscheidungen ist wieder einmal Europa. Das Interesse der Europäer an dem Vertrag ist groß; nicht so groß ist allerdings deren Chance, Russland vom Verbleib im Vertrag zu überzeugen. Vor allem die Möglichkeiten des in Bezug auf Russland sonst vermittelnden Deutschlands sind zum jetzigen Zeitpunkt beschränkt. Seit der Vergiftung Nawalnys hat das deutsch-russische Verhältnis einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Wo Europa dennoch einen Versuch unternehmen sollte, eine russische Entscheidung hinauszuzögern, ist die OSZE. Im kommenden Jahr übernimmt Schweden den Vorsitz. Abgesehen von der Beobachtungskommission Open Skies Consultative Commission und dem Forum für Sicherheitskooperation, wo Fragen zum Vertrag über den Offenen Himmel diskutiert werden, könnte Schweden eine breitere Debatte zu vertrauensbildenden Maßnahmen im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland anstoßen. Als Nichtmitglied der NATO blickt Schweden mit zunehmender Sorge auf die voranschreitende Aufrüstung Russland und sollte deshalb an dem Erhalt des Vertrags besonders interessiert sein.

Moskaus subjektive Auslegung des Vertrags zu eigenen Gunsten ist nicht von der Hand zu weisen. Der Ausstieg der USA ist jedoch keine adäquate Antwort auf Moskaus Vorgehen. Vielmehr sollte durch Kompromisslösungen ein Weg gefunden werden, die strittigen Punkte zu beseitigen. Mit ihrem Ausstieg werden die USA Russland nicht dazu bewegen, den Vertrag zu achten. Vielmehr besteht das Risiko, dass Russland spiegelbildlich reagiert, und der Vertrag letztlich zusammenfällt. Ein Ende des Vertrags würde nicht nur den schon ohnehin stark belasteten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland einen weiteren Stoß versetzen, sondern auch einen hart erkämpften Meilenstein der europäischen Sicherheitsarchitektur aufs Spiel setzen.

Der Vertrag über den offenen Himmel bleibt bis heute eines der wichtigsten Abkommen zur europäischen Sicherheit und Stabilität und eines der letzten verbliebenen Instrumente der Rüstungskontrolle im euro-atlantischen Raum. Sein Nutzen liegt auf der Hand: Das aus den Kontrollflügen gewonnene Wissen um gegenseitige militärische Aktivitäten und Potenziale dient dazu, den Stand der Dinge aus erster Hand zu beurteilen, und sicherzustellen, dass die restlichen Vertragsparteien auch tatsächlich die Rüstungskontrollvereinbarungen umsetzen. Eine adäquate Beurteilung der Lage in Krisensituationen hilft dabei, Fehlkalkulationen zu vermeiden, die letztlich zu einer militärischen Auseinandersetzung führen könnten. Besonders in den letzten Jahren vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen rund um Russlands Agieren hat sich der OH-Vertrag als wichtiges Instrument des Krisenmanagements erwiesen. So haben etwa nach dem Vorfall in der Straße von Kertsch im Dezember 2018 Vertreter aus den USA, Deutschland, Kanada, der Ukraine und anderen Ländern Flüge zur Beobachtung der Lage durchgeführt.

Die Expertenschmiede des Bundesheeres

Der Mehrwert des Vertrags liegt aber nicht allein in der Gewinnung militärischer Daten. Die gemeinsamen Beobachtungsflüge schaffen zum einen Transparenz und minimieren so das Eskalationspotential der ohnehin stark angespannten und von Misstrauen geprägten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Zum anderen sind sie eine der letzten verbliebenen Formen der direkten Kooperation zwischen den beiden Seiten, als bei den Flügen Rüstungskontrollexperten sowohl des observierenden als auch des observierten Staates teilnehmen.

Schlafwandelnd am Abgrund
Es erscheint unlogisch, dass gerade in Zeiten zunehmender globaler Bedrohungen und Herausforderungen Kooperationsmechanismen abgebaut und multilaterale Verträge aufgekündigt werden. Der Austritt der USA aus dem Vertrag ist daher eine strategische Fehlentscheidung. Abgesehen von den klaren Vorteilen des Vertrags für die europäische Sicherheit und die zwischenstaatlichen politischen und militärischen Beziehungen, senden die USA mit ihrem Austritt ein falsches Signal und riskieren einen Dominoeffekt für die gesamte Rüstungskontrolle. Im Februar 2021 läuft der New START Vertrag aus, der die Nukleararsenale der USA und Russlands auf je 800 Trägersysteme und je 1.550 einsatzbereite Atomsprengköpfe reduziert. Wenn die USA demonstrativ Desinteresse an der Rüstungskontrolle an den Tag legen, ist nicht zu erwarten, dass die russische Seite sich mit vollem Elan für die Verlängerung des New START einsetzen wird.

Der Austritt der USA sollte als Anlass für eine breitere Debatte über sicherheitspolitische Zukunftsfragen genutzt werden. Denn auch wenn der Vertrag noch gerettet wird, bleiben viele grundlegende Fragen und Differenzen in Bezug auf die europäische Sicherheit und die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland ungeklärt.

@gemeinfrei
Der Open-Skies Vertrag basiert auf einem Vorschlag aus dem Jahr 1955 des damaligen US-Prädidenten Dwight D. Eisenhower. Tatsächlich umgesetzt wurde die Idee dann aber erst im Jahr 1989.

Die Krise rund um den Vertrag ist im Grunde nämlich ein Zeichen eines viel tiefer liegenden Problems; ein Symptom einer schweren Erkrankung, die fast unbemerkt und oft schleichend den Organismus befällt. Die Symptome werden anfangs vom Erkrankten kaum wahrgenommen oder gar bewusst verdrängt, bis sie so bemerkbar und belastend ist, dass es sie zu ignorieren kaum noch möglich ist. In diesem Stadium ist sie auch schon so weit fortgeschritten ist, dass mehr als die Minderung der Symptome nicht möglich ist. Präventive Maßnahmen hätten die Krankheit möglicherweise erst gar nicht ausbrechen lassen. Ähnlich ist es mit der Rüstungskontrolle. Auch hier gilt: lieber vorbeugen statt heilen. Es müssen laufend Gespräche zwischen den Vertragsparteien stattfinden, strittige Punkte müssen thematisiert und beseitigt werden, Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen müssen modernisiert und implementiert werden. All das schafft Vertrauen und Berechenbarkeit.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass jene, die den Vertrag initiiert haben, ihn heute verlassen. 1955 stieß US-Präsident Dwight D. Eisenhower mit seinem Vorschlag von einer „gegenseitigen Luftbeobachtung” auf die ablehnende Haltung des sowjetischen Generalsekretärs Nikita Chruschtschows, der dahinter nichts weiter als einen amerikanischen Spionageversuch vermutete. Letztlich ließ sich Michail Gorbatschow von George H.W. Bush, der die Idee 1989 wiederbelebte, doch von den Vorteilen eines solchen Vorhabens überzeugen. Wenn gilt, dass Geschichte sich wiederholt, bleibt ein Schimmer Hoffnung, dass auch heute der Skeptiker – diesmal die USA – sich von der Bedeutung des Vertrags überzeugen lässt.

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Quelle@Sandra Grünewald on Unsplash, gemeinfrei, CC BY-SA 2.0, Clay Banks on Unsplash
Die Autorin ist politische Analytikerin und freie Journalistin aus Wien. Sie hat einen Abschluss in Internationale Beziehungen von der LSE und in Politikwissenschaft von der Universität Wien. Zudem hat sie mehrere Jahre Erfahrung als Analytikerin, Kommentatorin und Übersetzerin.