Laut einem hochrangigen – namentlich nicht genannten – US-Verteidigungsbeamten gebe es Anzeichen dafür, dass Russland jeden Versuch, die ukrainische Hauptstadt Kiew zu erobern, zumindest vorläufig aufgeben könnte. Dies folgt auf Erklärungen des russischen Verteidigungsministeriums, die darauf hindeuten, dass Moskau versuchen könnte, die Ziele dieser „Spezialoperation” neu zu definieren und den Sieg trotzdem zu beanspruchen.

Hintergrund: Die Fortschritte an praktisch allen Fronten haben sich zuletzt deutlich verlangsamt oder sind überhaupt zum Stillstand gekommen. Es scheint, dass „die russischen Streitkräfte Kiew anscheinend nicht so aggressiv oder offen verfolgen wollen. Stattdessen scheinen sie sich einzugraben, um ihre bestehenden Positionen in diesem Teil des Landes – auch angesichts nordöstlich von Kiew erfolgten Gebietsverlusten – zu verteidigen. Sie konzentrieren sich auf den Donbass”, so der Beamte.

Auch das russische Verteidigungsministerium hat behauptet, dass es derzeit erwägt, seine Ziele zu revidieren. Die „erste Phase” seiner Operation in der Ukraine sei fast abgeschlossen, der Fokus liege aktuell auf der „vollständigen Befreiung der östlichen Donbass-Region”. Das heißt, zumindest in der unmittelbaren Zukunft dürfte man sich auf die Sicherung von Gebieten beschränken, die von DNR- und LNR-Separatisten beansprucht werden und einen Tag vor dem Krieg von Russland als „unabhängig” anerkannt wurden.

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Oberst General Sergej Rudskoi, der Chef der Hauptoperationsdirektion des russischen Generalstabs.

Ohnehin stets „zwei Optionen”
Der Chef der Hauptoperationsdirektion des russischen Generalstabs, Oberst General Sergej Rudskoi, behauptete: „Kherson und der größte Teil der Region Saporischschja sind unter voller Kontrolle. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass wir unsere Fortschritte weiter fortsetzen, um die Kontrolle über verschiedene Städte und umliegende Gebiete der Ukraine außerhalb der Donbass-Region zu übernehmen.” Laut ihm habe aber die von Präsident Wladimir Putin angeordnete „militärische Spezialoperation” ohnehin stets zwei Optionen gehabt: Die Operation auf den Donbass beschränken oder die gesamte Ukraine angreifen. Rudskoi sagte: „Russland hat sich entschieden, die gesamte Ukraine anzugreifen, um die ukrainischen Streitkräfte zu schwächen, damit sie die Streitkräfte im Donbass nicht verstärken können.”

„Sieg” für die russische Öffentlichkeit?
Wenn all dies tatsächlich zutreffen sollte, könnte es darauf hindeuten, dass die russische politische und militärische Führung nach einem Weg sucht, einen „Sieg” trotz vor Ort eher begrenzter operativer Resultate zu erklären. Es ist natürlich erwähnenswert, dass dies noch nicht unbedingt zu einem Ende des Konflikts oder sogar zu einem baldigen Waffenstillstand führen muss. Aber es könnte nach einem – sichtlich auch für alle Hierarchien bis hinauf zu Putin selbst – mit vielen Problemen behafteten Angriff ein gesichtswahrender Schwenk sein, nachdem der sicher anfänglich angestrebte schnelle Sieg nicht erreicht werden konnte. Der internationale Pariah bliebe Putin’s Russland aber trotzdem – samt grundlegender Verschiebung der sicherheitspolitischen Plattentektonik, Stichwort „Zeitenwende”.

Russische Armee kämpft mit enormen Problemen

Laut einem Tweet von Ria-Novosti hat das russische Verteidigungsministerium (erst zum zweiten Mal seit 24. Februar) übrigens offizielle russische Opferzahlen veröffentlicht, wonach bei den Kämpfen bisher 1.351 Mann fielen und 3.825 verwundet wurden. Diese Zahlen sind klarerweise deutlich niedriger als Schätzungen, die von ukrainischen, US-amerikanischen und anderen ausländischen Beamten vorgelegt wurden. Ein NATO-Beamter sagte erst diese Woche, dass nach westlichen Erkenntnissen zwischen 7.000 und 15.000 russische Soldaten bereits gestorben und bis zu 40.000 (verwundet, gefangen, desertiert, …) verloren sein könnten, zumindest teilweise basierend auf Daten von Militär- und Polizeibehörden in der Ukraine und Informationen aus russischen sozialen Medienberichten.

Quelle@Nati Melnychuk on Unsplash, Russia MoD