Es ist absolut verständlich, dass sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft voll auf die Bewältigung der zweiten Covid-Welle und der noch unabschätzbaren weiteren Folgen des Virus konzentrieren. Doch die Welt hat sich in diesem ominösen Jahr 2020 weiter gedreht und vor dem Jahreswechsel lassen sich einige Trends erkennen.

Aus europäischer Perspektive sind dabei fünf Erkenntnisse von besonderer Bedeutung, die auch weit in das kommende Jahr strahlen werden:

  • China legte seine Maske ab und pochte auf Weltführerschaft
  • Präsident Trump verprellte die Partner und isolierte die USA
  • Russland festigte seine Auslandspositionen und Präsident Putin erschien gestärkt
  • die Türkei versuchte sich um jeden Preis zur Regionalmacht aufzuschwingen
  • der Zusammenhalt in der EU stieg (auch) infolge der Corona-Bekämpfung

 

Zu China: Pekings Erfolge bei seiner rigorosen Bekämpfung des tödlichen Covid-Virus haben wohl dazu geführt, dass es seine außenpolitische Zurückhaltung vollends abgelegt und in den Offensivmodus übergegangen ist. Für Staatschef Xi Jinping ist dabei unerheblich, welch fragwürdige Rolle Peking beim Ausgang und bei der Verbreitung von Covid-19 gespielt hat.

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Anfangs stand China für seinen Umgang mit der Corona-Pandemie vielfach in der Kritik – anders als die meisten anderen Länder hat Peking die Situation aber rasch unter Kontrolle gebracht.

Infolge des Dauerkonflikts mit den USA verlagerte Chinas Führung ihren strategischen Fokus auf den Indopazifik und den eurasischen Raum. Der letzte Coup gelang Ende November mit der Verkündung des Freihandelsabkommens Regional Comprehensive Economic Partnership. 15 Länder – von Japan über Südkorea und Vietnam bis Australien und Neuseeland – wollen dabei Zölle abbauen, in zehn Jahren könnten sie gemeinsam etwa 50 Prozent des Welthandels bestreiten. Doch bei manchen Partnern in anderen Regionen leuchten infolge des harschen und fordernden Auftretens Pekings inzwischen die Warnlampen. So wurde beispielsweise tschechischen Politikern offen mit „Konsequenzen” gedroht, weil sie eine Taiwan-Reise absolvierten. Peking stellt auch – indirekt über lokale Medien – unverblümt Forderungen an die australische Regierung. Eine Botschaftsangehörige verkündete, dass China wütend sei und führte 14 Punkte an, die Peking besonders stören. Man könne sich China auch zum Feind machen. Selbst in der EU glaubt man immer weniger an „Wandel durch Handel” und sieht sich in einer systemischen Rivalität mit China. Außerdem macht sich am UNO-Sitz in Genf bei Vielen Unbehagen über den chinesischen Einflussgewinn breit, wo es Peking immer häufiger gelingt, wichtige Führungspositionen zu besetzen. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte „Wolfskrieger-Diplomatie” anzuführen, bei der offizielle chinesische Repräsentanten besonders forsch und fordernd Chinas Überlegenheit und Führungsanspruch Ausdruck verleihen. Hier reiht sich auch das repressive Vorgehen in Hongkong ein, wo der Slogan „ein Land zwei Systeme” immer mehr zur hohlen Phrase verkommt.

In der Einheitspartei KPC besteht über alle Flügel hinweg Konsens darüber, dass China eine führende Rolle im Weltgeschehen zusteht. Nun scheint für viele die Zeit dafür reif zu sein, diesem Anspruch zum Durchbruch zu verhelfen. Denn das chinesische System habe sich gerade in der Zeit der Pandemie als überlegen erwiesen, Peking reklamiert für sich auch eine moralische Führerschaft.

„Infolge des Dauerkonflikts mit den USA verlagerte Chinas Führung ihren strategischen Fokus auf den Indopazifik und den eurasischen Raum.“

Zu den USA: Die von Covid-19 besonders hart betroffenen USA waren zunehmend mit sich selbst beschäftigt. Der Handelskrieg mit China, der Präsidentschaftswahlkampf und die Bekämpfung der Pandemie ließen wenig Spielraum und Aufmerksamkeit für außenpolitische Vorhaben. Es reichte noch für ein Störfeuer gegenüber Deutschland, indem die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 vorerst verhindert und das Vertrauen durch den überraschenden Abzug eines größeren Kontingents von US-Soldaten abermals auf eine harte Probe gestellt wurde. Erfolgreicher war dagegen eine Initiative im Nahen Osten, die eine Annäherung von Israel und den VAE sowie Saudi Arabien bewirkte. Das könnte einerseits eine Entspannung zwischen den historischen Kontrahenten bringen und andererseits die Bildung einer starken Front gegen den gemeinsamen Feind Iran ermöglichen. Allerdings bleiben die Effektivität und Dauerhaftigkeit dieser Annäherung abzuwarten.

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Die Alleingänge von US-Präsident Donald Trump haben zuletzt für viele Irrationen bei ehemalige Partner gesorgt. Aufgabe von Neo-Präsident Joe Biden wird es sein, diese Irrationen wieder zu glätten und einst starke Bande wieder enger zu knüpfen.

Im Indo-pazifischen Raum ist Washington bestrebt, dem steigenden Einfluss Chinas durch Revitalisierung alter Allianzen und Bildung neuer Formate zu begegnen. In einem „quatrilateralen Sicherheitsdialog” (kurz Quad) mit Japan, Indien und Australien verfolgt man gemeinsam das Ziel eines freien und offenen Indo-Pazifiks und einer regelbasierten internationalen Ordnung. Allerdings sind die US-Partner offensichtlich dabei bemüht, keine offene Front gegenüber China aufzubauen. Daher wird auch betont, dass es sich dabei keinesfalls um eine militärische Allianz handle. Generell ist aber anzumerken, dass es US-Präsident Donald Trump gelungen ist, viele Staaten, vor allem auch in Europa, hinsichtlich Chinas machtpolitischen Ambitionen wachzurütteln.

Im transatlantischen Verhältnis gab es keine substanzielle Verbesserung, die Verunsicherung innerhalb der NATO ob des erratischen Vorgehens des US-Präsidenten ist geblieben. Dazu zählt auch die Ankündigung Trumps nach den Wahlen, die Truppen in Afghanistan und im Irak deutlich zu reduzieren – ohne Rücksprache mit seinen Partnern, die auf den Schutzschirm der USA maßgeblich angewiesen sind. Die Beziehungen mit Russland blieben unverändert nahe dem Gefrierpunkt, vermutlich hat man bewusst Distanz gehalten angesichts der heftigen Einmischungsvorwürfe gegenüber Moskau bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2016.

„Im transatlantischen Verhältnis gab es keine substanzielle Verbesserung, die Verunsicherung innerhalb der NATO ob des erratischen Vorgehens des US-Präsidenten ist geblieben.“

Zu Russland: Trotz Pandemie und wirtschaftlicher Schwäche hat 2020 viel in die Hände von Präsident Wladimir Putin gespielt. Hervorzuheben ist die Entwicklung in Weißrussland, wo seine machtpolitischen Spielchen Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko in die Arme Moskaus trieben. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis er untragbar wird. Bis dahin wird der Kreml mit Sicherheit alles unternommen haben, um seinen Einfluss im strategischen Bruderland abzusichern. Damit bleiben der Zugang nach Kaliningrad sowie der Puffer Richtung NATO-Staaten garantiert. Auch die vorerst überraschende Zurückhaltung beim wiederaufgeflammten Krieg um Bergkarabach dürfte dazu führen, dass Armenien sich hinkünftig wieder stärker an Moskau als an Europa orientieren wird. Der Einsatz russischer „Peace Keeper” bietet die Gelegenheit, die Entwicklungen vor Ort zu kontrollieren und seine militärische Präsenz beinahe beliebig erhöhen zu können.

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Russland sieht sich machtpolitisch aktuell in einer einflussreichen Perspektive – insbesondere in Weißrussland und Syrien geht ohne den Willen Moskaus nicht viel.

Im Donbass in der Ostukraine friert der Konflikt zunehmend ein, die verdeckte Unterstützung der Separatisten garantiert der Kremlführung, jederzeit an der Eskalationsschraube drehen zu können. Die Annexion der Krim ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, die damit zusammenhängenden Sanktionen westlicher Staaten sind verkraftbar, da sich mittlerweile für viele Wirtschaftsbereiche taugliche Alternativen gefunden haben.

„Im Donbass in der Ostukraine friert der Konflikt zunehmend ein, die verdeckte Unterstützung der Separatisten garantiert der Kremlführung, jederzeit an der Eskalationsschraube drehen zu können.“

Russlands seit 2014 (Krim-Annexion) intensivierte Beziehungen mit China tragen weiter Früchte, obwohl sich Moskau der Rolle und Gefahren als „Juniorpartner” wohl bewusst ist. Mit der Erschließung der Arktis samt Schiffspassagen wähnt sich Russland aber gegenüber China in einer starken Position, da es damit über zusätzliche Rohstoffe und Infrastruktur entlang der Arktisrouten verfügt. Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation sowie chinesische Investitionen haben daher deutlich zugenommen.

Auch in Syrien war Russland weiter der zentrale externe Akteur, der sein Verbleiben im Lande nachhaltig gesichert hat. Es war zweifellos auch ein außenpolitischer Coup, der Türkei das Luftabwehrsystem S-400 zu verkaufen, das sich Ende 2020 bereits in Erprobung befindet. In Libyen scheint Moskau hingegen mit General Chalifa Haftar auf das falsche Pferd gesetzt zu haben. Allerdings wird Moskau vor allem aufgrund seines vorausschauenden energiepolitischen Engagements auch weiterhin Einfluss nehmen können. Dass es dabei in Syrien, in Libyen oder in Bergkarabach zu teils heftigen Kontroversen mit der Türkei kommt wurde bislang aufgrund eines übergeordneten geostrategischen Interesses hingenommen.

Die Arktis – eine neue geopolitische Arena

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Die Türkei gestaltete ihre Außenpolitik in den vergangenen Jahren zunehmend auch militärisch.

Zur Türkei: Eine besondere Entwicklung hat die Türkei unter Präsident Reccep Tayip Erdogan genommen, das Streben nach dem Status einer Regionalmacht ist unverkennbar. Seit dem militärischen Einschreiten in Nordsyrien lässt sich eine zunehmende Militarisierung der türkischen Außenpolitik konstatieren. So brachten türkische Drohnen und Söldner die Wende im libyschen Bürgerkrieg zugunsten der international anerkannten Regierung von Al-Sarraj. Dieses „Erfolgsmodell” kam auch im Herbst 2020 in Bergkarabach zum Tragen. Denn die Unterstützung der aserbeidschanischen Offensive war mitentscheidend für die Niederlage der armenischen Seite.

Schon im Herbst 2019 hat Ankara öffentlichkeitswirksam im Zusammenwirken mit Libyen seine ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) im östlichen Mittelmeer deklariert – entgegen internationaler Gepflogenheiten und im Widerspruch zu geltendem Recht. Der türkische Präsident stellt die gültige Seegrenze zu Griechenland infrage und pocht auf eine Neuregelung – vermutlich primär wegen der Gasvorkommen in diesem Gebiet. Die Türkei schreckt auch nicht davor zurück, ihre Erkundungsschiffe von der Marine eskortieren zu lassen, um damit ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Der Konflikt hat auch eine regionale und institutionelle Dimension, da schließlich Griechenland und die Türkei NATO-Partner sind und Zypern sowie Griechenland auf die Unterstützung der EU pochen. Beide Seiten halten Militärmanöver ab, die das Potenzial einer ungewollten Eskalation bergen.

Die „erfolgreichen” Drohneneinsätze in Libyen und Bergkarabach zeigen außerdem, dass der ehrgeizig betriebene Aufbau einer türkischen Rüstungsindustrie zunehmend Früchte trägt. Waffenproduktionen sollen als Devisenbringer fungieren und helfen, die strategische Autonomie des Landes zu erhöhen.

„Seit dem militärischen Einschreiten in Nordsyrien lässt sich eine zunehmende Militarisierung der türkischen Außenpolitik konstatieren.“

Zur EU: Obwohl sich die EU aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung und nationaler Lösungsansätze bei Covid-19 mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert sah, dürfte sie infolge des Brexit und der Pandemiebekämpfung an Kohäsion gewinnen. So gibt es vermehrt Ansätze, der multiplen Versorgungsabhängigkeit durch fokussierte Strategien etwa im medizinischen oder im Energiebereich zu begegnen. Das reicht von gemeinsamen Einkäufen etwa bei Impfstoffen („Marktmacht Europa”) über die Diversifizierung der Anbieter bis zur Stärkung des Produktionsstandortes Europa. Auch die Verhandlungen zum Brexit laufen unaufgeregt und in geordneten Bahnen, ohne maßgebliche Störung durch einzelne EU-Staaten.

Selbst China musste die neue Geschlossenheit und Entschlossenheit der EU beim diesjährigen Gipfeltreffen und bei den Verhandlungen über ein Investitionsabkommen zur Kenntnis nehmen. Ein differenzierender Blick auf China („Partner und Systemrivale”) bildet nun die Basis weiterer Aktivitäten, die von fairem Wettbewerb und Reziprozität getragen werden sollen. Das Verhältnis zu Moskau ist weiterhin frostig und von Argwohn gezeichnet, wovon die Verlängerung der Sanktionen zeugt.

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Große Herausforderung: In der EU stieg zuletzt das Bewusstsein dafür, dass es im Verteidigungsbereich mehr Handlungsfähigkeit und Koordinierung braucht.

Ein starkes Zeichen des Zusammenhalts war die Einigung auf einen beträchtlichen Wiederaufbaufonds im Ausmaß von 750 Milliarden Euro, der dazu führt, dass von der EU Gelder aufgenommen und verteilt werden können. Diese außergewöhnliche Maßnahme stellt zweifelsohne einen maßgeblichen Vertiefungsschritt innerhalb der Union dar. Selbst im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich waren weitere Fortschritte zu vermerken. So soll die Etablierung eines „Strategischen Kompass” dazu dienen, mehr Handlungsfähigkeit und Koordinierung im militärischen Bereich zu erzielen. Steigende Verteidigungsbudgets vieler EU-Staaten könnten auch darauf hinweisen, dass Europa zunehmend bereit ist, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Obwohl die letzte Entscheidung noch aussteht könnte auch die Verankerung der Verpflichtung aller EU-Mitglieder zu Rechtsstaatlichkeit (eigentlich eine Selbstverständlichkeit!) einen substanziellen Schritt in Richtung rascher Entscheidungsfindung und erhöhter Handlungsfähigkeit der EU bedeuten.

„Europa tut gut daran, sich endlich auf die geänderten geopolitischen Verhältnisse einzustellen und sich der Notwendigkeiten, seiner Stärken und Möglichkeiten bewusst zu werden.“

Was bedeutet das nun alles?
Während 2020 das globale Hauptaugenmerk auf der Pandemiebekämpfung lag, haben sich die geopolitischen Parameter stärker herauskristallisiert. Dabei wird immer deutlicher, dass bereits eine Bipolarität zwischen China und den USA besteht, die aber viel Raum für die Machtambitionen regionaler Akteure lässt. Die USA haben in den vergangenen Jahren deutlich an Einfluss verloren oder sich bewusst zurückgezogen, was sowohl China wie auch Russland oder die Türkei zu nutzen wussten. In vielen europäischen Hauptstädten scheint sich daher die Erkenntnis durchzusetzen, dass Europa – vor allem in Gestalt der EU – mehr Verantwortung übernehmen muss, will es nicht zum Spielfeld der anderen Kräfte werden. Der Machtwechsel in den USA weckt zwar Hoffnungen auf ein Comeback der „guten alten Zeiten” und auf eine Verbesserung des transatlantischen Verhältnisses, doch die Erfahrungen aus der Pandemiebekämpfung haben deutlich gezeigt, dass Politik gerade in Krisenzeiten ausschließlich von Interessen und nicht von Sympathien geleitet wird. Europa tut daher gut daran, sich endlich auf die geänderten geopolitischen Verhältnisse einzustellen und sich der Notwendigkeiten, seiner Stärken und Möglichkeiten bewusst zu werden.

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