Für Militär Aktuell analysiert Thomas Ruttig den geplanten Abzug der NATO-Truppen Ende 2014 aus Afghanistan und die Hintergründe einer möglichen Nachfolgemission.

Ende des Jahres werden die internationalen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Wirklich? Was Ende 2014 stattfindet, ist nur ein Teilabzug. Abgezogen werden die internationalen Kampftruppen, die bisher der NATO-geführten, multilateralen ISAF-Truppe unterstanden. Damit endet der ISAF-, aber nicht der NATO-Einsatz. Zum einen plant die NATO eine Folge-mission für ISAF namens Resolute Support, die die auf 352.000 Mann, aber nicht im gleichen Maße qualitativ gewachsenen afghanischen Streitkräfte weiter ausbilden soll. Ursprünglich hatte dem auch die afghanische Regierung Präsident Hamid Karzais auf dem NATO-Gipfel 2012 in Chicago zugestimmt, dann aber – aus innenpolitischen Erwägungen – die Unterzeichnung des US-afghanischen Bilateralen Strategischen Abkommens (BSA) verweigert, das die Grundlage für die neue Mission bilden soll. Ohne US-Truppen und US-Logistik wäre eine neue NATO-Mission aber nicht handlungsfähig.

Zum zweiten bleiben möglicherweise verschiedene US-Spezialeinheiten im Lande. Welche Abmachungen ihren Status regeln, weiß niemand so genau. Sie unterstehen zwar seit Auflösung der Operation Enduring Freedom dem ISAF-Kommando. Da ISAF aber von einem US-General geleitet wird, doch nur wieder den Amerikanern allein.

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Ein afghanisches Kind reicht einem verbeigehenden US-Soldaten die Hand.

In Afghanistan ist allerdings vielen an der Wirkung klar geworden, was diese Kräfte tun. Sie operieren nicht nur außerhalb oder unter Ignoranz der afghanischen Gesetze, oft sogar ohne Wissen der afghanischen Regierung. Nachdem im vorigen Jahr in der Provninz Wardak, gleich außerhalb Kabuls, US-Journalisten neben einer Basis von US-Spezialkräften die Leichen mehrerer „Verschwundener“ fanden, stoppte Karzai alle unilateralen Operationen dieser Einheiten. Andernorts agieren diese Kräfte aber offenbar auch gestützt auf Abmachungen mit lokalen Warlords, zu denen ironischerweise auch engste Verwandte Karzais gehören, etwa im Falle der Kandahar Strike Force in seiner Heimatprovinz. So ambivalent ist vieles in Afghanistan.

Trotz der Drohung, sich ganz aus Afghanistan zurückzuziehen (die sogenannte zero option), ließ sich die US-Regierung erstaunlich lange von Karzai an der Nase herumführen. Das spricht für ein außergewöhnlich hohes Interesse in Washington, einen Fuß auf afghanischem Boden zu behalten. Es entsteht der Eindruck (der auch in Medien diskutiert wird), dass die NATO-Nachfolge­mission für die USA vor allem zur Fortführung des Drohnenkriegs dient und kurze Wege zu den Nuklearanlagen in Iran und Pakistan sicherstellen soll. Also als Cover für Spezialoperationen.

Die beiden Präsidentschaftskandidaten, die am 14. Juni (Anm.: nach Redaktionsschluss) im Kampf um die Nachfolge des scheidenden Karzai antreten, haben erklärt, sie würden das BSA schnell unterschreiben. Dies scheint politische Vernunft auszustrahlen, da ein Groß-, wenn nicht der größte Teil der afghanischen Bevölkerung hofft, sich so fortgesetzte internationale Unterstützung nicht nur militärischer Art zu sichern, aber auch die wohl irrige Hoffnung, das Taliban-Problem doch noch militärisch „lösen“ zu können. Allerdings wird eine weitere Stationierung ausländischer Soldaten, welcher Art und in welcher Zahl auch immer, für viele Aufständische weiterhin einen Kriegsgrund darstellen. Damit stünde eine neue NATO-Mission der Suche nach einem politischen Regelungsansatz in Afghanistan eher im Wege. Nur ein solcher Ansatz aber würde die Weichen für eine friedliche – wenn auch alles andere als problematische – Zukunft der Afghanen stellen.

Thomas Ruttig befasst sich seit 1980 mit Afghanistan und ist gegenwärtig Ko-Direktor des unabhängigen Think-Tanks Afghanistan Analysts Network (Kabul/Berlin; www.aan-afghanistan.org).