Der Ukraine-Krieg zeigt einmal mehr: Die Antwort auf „Selfies” und Videos von der Front sind heute in vielen Fällen Granaten und Raketen.

Die flächendeckende Verbreitung von Social Media und deren gewohnte Nutzung auch an der Front stellen für Streitkräfte eine relativ neue Herausforderung dar. Praktisch jeder einrückende Soldat ist heute mit seinem Smartphone technisch für die globale Verbreitung von Bild-, Ton- und Videoaufnahmen sowie Sprach- und Textnachrichten in Echtzeit ausgestattet und nutzt diese Möglichkeiten nicht nur in Friedens-, sondern auch in Kriegszeiten. Das Problem dabei: Der Nutzer gefährdet damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Kameraden in seiner unmittelbaren Umgebung, wie aktuelle Berichte aus der Ukraine zeigen.

Der Grat zwischen Öffentlichkeitsarbeit, Information und dem verständlichen – und in gewissem Maße auch notwendigen – Bedarf der Truppe, trotz Krieg zumindest einen Teil ihrer gewohnten sozialen Kontakte aufrechtzuerhalten einerseits, und der sorglosen Preisgabe von sicherheitsrelevanten Informationen andererseits, ist durchaus schmal, wie etwa die Vernichtung eines 240mm Granatwerfers 2S4 Tyulpan („Tulpe”) verdeutlicht.

Die Tulpe bei Rubischne
Es handelt sich bei der „Tulpe” um das schwerste System seiner Art. Es kann 130 Kilogramm schwere Granaten auf Entfernungen von 800 bis 9.500 Meter verschießen oder 228 Kilogramm schwere Granaten mit Raketenantrieb auf eine Distanz von bis zu 18 Kilometer. Vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine waren nur wenige Stück im offiziellen Bestand der russischen Streitkräfte und dementsprechend dürften nicht wenige Soldaten ihr Handy gezückt haben, als sie Mitte Mai in Rubischne tatsächlich eine „Tulpe” zu Gesicht bekamen. Nachdem am 20. Mai mehrere Bilder und Videos des Systems beim Einsatz gegen Stellungen und Infrastruktur der Ukraine in Sewerodonezk in mehreren Telegram- und Twitter-Kanälen sowie im russischen Fernsehen erschienen, wurde die „Tulpe” schon am nächsten Tag von einer ukrainischen Drohne in ihrer Feuerstellung aufgespürt und durch präzisen Artilleriebeschuss zerstört.

Granaten in und auf ExpoDonbas
Dass die Ukraine inzwischen nicht nur einige Erfahrungen gesammelt, sondern auch funktionierende Strukturen aufgebaut hat, um Informationen aus Social Media Kanälen zu nutzen, wird in der Nachbetrachtung des Beschusses der ExpoDonbas Mitte Juni offensichtlich.

@ArchivSchon 2015 und 2016 wurde die OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine darauf hingewiesen, dass das ExpoDonbas-Gebäude, mitten in der Stadt Donezk und kaum 500 Meter von der 2009 neu eröffneten Donbass Arena, Heimstadion des bekannten Fußballvereins Schachtar Donezk, als Lager für militärische Ausrüstung und Munition dient. Den Bildbeweis liefert ein „Selfie” eines jungen Mannes der in der ExpoDonbas-Halle offenbar mit dem Lagern von Munition beschäftigt ist. Kurz darauf wurde die Halle nach einem Bildabgelich (siehe markierte Bereiche am Bild) durch ukrainischen Artilleriebeschuss zerstört.

Das Quartier der Musikanten
Die „Wagner Gruppe” auch bekannt als „PMC Wagner” ist ein Privatunternehmen, welches „Militärdienstleitunge”“ an die Russische Föderation verkauft. Sie gilt gemeinhin als „Putins Privatarmee” und gehört dem Oligarchen Yevgeny Prigozhin, auch bekannt unter der Spitznahmen „Putins Koch”. Ihren Namen hat die Formation vom bekannten Komponisten und Dramatiker Richard Wagner (1813-1883) abgeleitet, weshalb sich die Mitglieder gerne als „Musiker” bezeichnen. Die Söldnergruppierung ist bekannt und berüchtigt für ihre exzessive Gewaltausübung weit abseits jedweden Rechtsrahmens, sei es Zivil- oder Kriegsrecht.

Mitte August besuchte Yevgeny Prigozhin persönlich einen offenbar bedeutenden Kommandoposten der „Wagner Gruppe” in Popasna im äußersten Westen der Oblast Luhansk, Ukraine. Die dabei gemachten Selfies, Erinnerungsfotos und Gruppenaufnahmen fanden rasch den Weg in Telegram-Kanäle und offenbarten dort den Standort des Kommandopostens. Die Adresse des Gebäudes war auf einem der Fotos im Hintergrund klar erkennbar.

Es vergingen nur Stunden von der Veröffentlichung der Fotos bis zum Einschlag von HIMARS-Raketen auf dem Gelände. Wie effektiv der Schlag war, zeigt nicht nur der Umstand, dass für mehrere Tag der Verbleib von Yevgeny Prigozhin selbst unklar bliebt. Auch der Wagner-eigene telegram-Kanal „Grey Zone” blieb (völlig unüblich) für eine Woche unbetreut und die militärischen Aktivitäten der Gruppierung ließen zumindest für einige Tage merkbar nach.

Zahlreiche weitere Beispiele
Wer nach weiteren zeitnahe Beispielen sucht, wie die gedankenlose Nutzung von Smartphone und Social Media in Konfliktzonen die eigene Sicherheit gefährden kann, dem sei der Twitter-Kanal von Mark Krutov (Radio Free Europe/Radio Liberty) empfohlen. Selfies von Stellungen samt aktivierter Geomarkierung im Foto sind keine Seltenheit.

Quelle@Archiv
Martin Rosenkranz (geboren 1968 in Wien) ist Journalist und Autodidakt für Luftfahrt-, Militär- und Technologiethemen. Er war Chefredakteur des Luftfahrtportals www.airpower.at. Hat viele Jahre die Ausschreibung und Beschaffung der Eurofighter Typhoon sowie die Nachwehen journalistisch begleitet, militärischen Verbänden und Rüstungsunternehmen im In- und Ausland besucht und war bei Fachseminaren eingeladen.