Mittels eines Regierungserlasses entlässt der ungarische Verteidigungsminister gerade Hunderte von hochrangigen Offizieren. Der Schritt diene der Verjüngung und Modernisierung der Armee, sagt der Minister. Die Opposition vermutet dahinter allerdings politische Gründe.

Am 17. Jänner wurde im ungarischen Amtsblatt ein Regierungserlass veröffentlicht, der alle Soldaten und Offiziere betrifft, die in den Kommandos, Formationen und Unterstützungsorganisationen der ungarischen Streitkräfte sowie im Militärstab des Verteidigungsministeriums dienen. Unter Berufung auf eine notwendige Verjüngung des Armeepersonals verfügt die Regierung darin, dass der Verteidigungsminister durch einseitige Entscheidung und mit einer zweimonatigen Entlassungsfrist den Dienst von Soldaten beenden kann, die das 45. Lebensjahr vollendet und mindestens 25 Jahre Dienst geleistet haben. Laut dem im vergangenen Juni ins Amt gekommenen Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczky ebne diese Möglichkeit „den Weg für den Aufstieg einer jungen Generation von Kommandeuren”. Szalay-Bobrovniczky weiter: „Damit die Jugend vorankommen kann, muss der Führungs- und Offiziersstab umstrukturiert werden.”

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Ungarns Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczk rechtfertigt die Entscheidung mit einer bei den Streitkräften dringend benötigten „Verjüngungskur”.

Für das betroffene Personal führt die Regierung eine – jedoch nicht automatisch gewährte, sondern einer individuellen ministeriellen Entscheidung unterliegende – sogenannte „Zulage für den nationalen Verteidigungsdienst” ein. Sie basiert auf 70 Prozent des letzten Gehalts, der Betrag reduziert sich aber um zwei Prozent pro Jahr, das zwischen dem momentanen Alter und dem Regel-Rentenalter liegt. Nach Angaben des Ministeriums stehe diese „beispiellos vorteilhafte Zulage” Anspruchsberechtigten bis zum Erreichen des Rentenalters in voller Höhe zu, auch wenn er oder sie bereits einer anderen Arbeit nachgehe.

Politische Loyalität als wahrer Hintergrund?
Die Plattform telex.hu berichtet, dass in den ersten Tagen bis zu 170 Offiziere ihre sofortige Ruhestands-Ab- beziehungsweise Versetzung erhalten haben und mit rund 100 von ihnen bereits entsprechende Gespräche geführt wurden. Laut einer anderen Quelle sollen 157 Offiziere bis in den Generalsrang mit sofortiger Wirkung zurückgetreten sein. Die ehemalige Staatssekretärin für Nationale Verteidigung, Ágnes Vadai, von der zur Fidesz in Opposition stehenden DK, sagte im ATV-Straight Talk am 19. Jänner: „Es ist noch gar nicht bekannt, wo dies enden wird, aber ich habe von Tausenden von Menschen aus dem Verteidigungsministerium gehört. Der Verteidigungsminister hat unter dem durch das Dekret gewährten Recht in Wahrheit eine große Säuberung unter Offizieren und höheren Offizieren eingeleitet, Mitglieder des Generalstabs der Armee wurden massenhaft entlassen und Generäle und Oberste mündlich freigestellt. Dies bedeutet auch eine NATO-Schwächung in den ungarischen Streitkräften, die da im Gange ist. Es sind 45-jährige Offiziere und Generäle betroffen, Soldaten mit internationaler Erfahrung, die viele Sprachen sprechen und in der NATO sozialisiert wurden.” Vadai erwähnt zudem, dass das Ziel der Maßnahmen auch darin bestünde, politische Loyalität (gemeint zur regierenden Fidesz-Partei) in der ungarischen Armee von nun an zur Norm zu machen.

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Im ungarischen Medium alfahir.hu wird am 20. Jänner gefragt: „Werden die ungarischen Streitkräfte enthauptet oder ist die Verjüngung gerechtfertigt?” Nur zwei Tage nach der Ankündigung hätten bereits Entlassungen im Verteidigungsministerium und im Generalstab der ungarischen Streitkräfte begonnen, so alfahir.hu. Die ungarische Boulevardzeitung Blikk widerum will erfahren haben, dass es seit 19. Jänner im Ministerium „fieberhafte” Gespräche gäbe, zu denen Generäle und hochrangigen Offiziere – angeblich mehr als Hundert – beordert worden seien. Laut Blikk würden die Vorgänge innerhalb der ungarischen Streitkräfte vielfach als „Enthauptung” verstanden werden. „Wir wissen noch nicht, auf welches Niveau sie senken wollen. Es gibt viele Leute, die gerade ernannt wurden und jetzt weggeschaufelt werden”, sagte ein Berufsoffizier, dessen Identität geheim gehalten wurde, der Zeitung. Ob die Maßnahme auch Generalleutnant Romulusz Ruszin-Szendi als Chef des Generalstabs von Honvéd betrifft, ist noch nicht bekannt.

Neben den beiden Zentralstellen begann auch die Entlassung von Führungskräften in der Truppe, selbst Kommandeure müssen ihre Posten verlassen. Die Abberufungsschreiben sind in vielen Fällen noch nicht eingegangen, sie weren angeblich in den kommenden Tagen verschickt. Eine Anfrage von Blikk an die Presseabteilung des Ministeriums, ob man bestätigen könne, dass eine so große Anzahl von leitenden Offizieren betroffen sei und wie sie ihre Rücktritte erhalten würden, blieb bislang ohne Antwort.

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Wie viele Offiziere und hochrangige Soldaten nun den Dienst quittieren müssen, ist derzeit nicht bekannt – es dürften aber Hunderte sein.

Verteidigungsgewerkschaft steht zu Maßnahmen
Begrüßt wurde die Idee der Verjüngung von der Verteidigungsgewerkschaft. Laut einem ebenfalls anonym gehaltenen Offizier – der wohlgemerkt nicht die neuen Entlassungskriterien erfüllt – wäre diese Art von Personalwechsel nicht neu, ähnliche Vorgangsweisen würden in vielen Armeen praktiziert, von den Vereinigten Staaten bis zur Tschechischen Republik. „Natürlich wird dadurch das Selbstbewusstsein vieler Menschen verletzt. Es ist nicht einfach nach 25 Dienstjahren zu gehen und einen Platz im zivilen Leben finden zu müssen. Aber um sich zu verjüngen, muss man in der Lage sein, diese Lösung zu akzeptieren.”

In einem Interview mit der ungarischen Oppositionszeitung Magyar Nemzet vom 18. Jänner versucht Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczk die Entlassungen zu rechtfertigen: „Aufgrund des Krieges, der in der Ukraine ohne absehbares Ende tobt und der an Kämpfe des 20. Jahrhunderts erinnert, sowie der Verschlechterung der Situation aufgrund des aggressiven Migrationsdrucks an unseren Südgrenzen, hat sich die Aufmerksamkeit der ungarischen Gesellschaft und der politischen Führung verstärkt auf Fragen der Sicherheit und der Verteidigung gerichtet. Die gegenwärtige Kriegssituation erinnert daran, dass Frieden Stärke erfordert, und Stärke setzt eine moderne, fähige Armee voraus. Wir modernisieren daher laufend die Streitkräfte – und dabei darf man auch den Personalbereich nicht ausklamern. Es ist unsere historische Chance und Pflicht, dabei aktiv ernsthafte direkte Veränderungen vorzunehmen. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen und um die Änderungen zu regeln wurde von der Regierung nun das Notstandsdekret vorbereitet.”

„Die gegenwärtige Kriegssituation erinnert daran, dass Frieden Stärke erfordert, und Stärke setzt eine moderne, fähige Armee voraus.“

Szalay-Bobrovniczk argumentiert in dem Gespräch außerdem: „Ein weiterer Aspekt ist, dass seit einigen Jahren bei unseren Streitkräften viel modernes Gerät zuläuft, dessen Betrieb und die damit verbundenen professionellen Trainings und Übungen junge und dynamische Führungskräfte erfordert. Außerdem bedarf es moderner Denkweisen, um die in aktuellen bewaffneten Konflikten und Kriegen verwendeten Kampfverfahren auf operativer und taktischer Ebene zu übernehmen und bei Bedarf selbst praktizieren zu können. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, den älteren Mitarbeitern, die sich im Dienst mit Integrität behauptet haben, mit einer würdigen und gerechten Form der Entschädigung den Weg zu ebnen, den Dienst zu verlassen und junge Führungskräfte an ihre Stelle treten zu lassen.”

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Auf die Frage von Magyar Nemzet, ob der Truppe die Erfahrung des nun abgehenden Personals nicht fehlen wird, anwortet Szalay-Bobrovniczk: „Natürlich kann die Bedeutung von Wissen und Erfahrung nicht allein durch moderneres Gerät ersetzt werden, da solches ja ohne den Soldaten, der es bedient, nichts wert ist. Personalentscheidungen werden daher bei uns sehr sorgfältig getroffen, mit Hilfe meiner Kollegen – in vielen Fällen nach individuellem Ermessen – insbesondere um sicherzustellen, dass das Funktionieren der betroffenen Einheiten und Dienststellen jederzeit gewährleistet ist und dass das über Jahrzehnte gesammelte Wissen und die Erfahrung stets in den Organisationseinheiten erhalten bleibt.” Der Verteidigungsminister weiter: „Ich bin daher überzeugt, dass diese Verjüngung im Interesse der ungarischen Nation und des ungarischen Militärs liegt und beide davon profitieren werden. Eine modernere, leistungsfähigere Armee bedeutet ein sichereres Ungarn. Und das Angebot, dass der ungarische Staat jetzt denjenigen macht, die sich im Dienst auszeichneten, ist fair und wird von den Betroffenen geschätzt.”

Mehrzahl der Ungarn sieht die Maßnahme negativ
In einer von Magyar Nemzet durchgeführten Umfrage unter 6.864 Personen sehen 74 Prozent die aktuelle Entscheidung kritisch. Nur 26 Prozent befürworten sie, 56 Prozent befürchten, dass damit jahrzehntelange Erfahrung verloren geht. 19 Prozent wiederum antworten, es sei legitim, die Soldaten ins Zivilleben zu schicken, denn sie wären immer noch „Menschen einer alten Welt”. Ihre Zeit sei abgelaufen, sie müssten durch jugendlichen Elan ersetzt werden.

Kristóf Szalay-Bobrovniczky wurde übrigens im vergangenen Jahr zum ungarischen Verteidigungsminister bestellt. Davor war der 52-jährige Vertraute von Ungarns Präsident Viktor Orban (seine Frau Alexandra Szentkirályi ist als ungarische Regierungssprecherin tätig) als Diplomat und Unternehmer tätig. Dabei gelang Szalay-Bobrovniczky im Jahr 2021 die Übernahme des größten tschechischen Flugzeugherstellers Aero-Vodochody, der im April 2022 den Verkauf von 12 Stück des einstrahligen Jet-Trainer-Typs L-39NG an die ungarische Luftwaffe abschließen konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Szalay-Bobrovniczky – um einen Interessenskonflikt zu vermeiden – aber von seinen Anteilen an Aero bereits wieder getrennt. Zsolt Hernádi, Präsident und CEO des ungarischen Erdölkonzerns MOL, übernahm mit der Firma SI 13 Aero Zrt die Anteile.

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