Obwohl Gesundheit zu einem Sicherheitsthema erklärt wurde, konnten sich gesamteuropäische Ansätze zum Umgang mit der Corona-Pandemie kaum durchsetzen. Das sind jedoch nicht die einzigen Probleme, die Thomas Roithner, Friedensforscher und Politik-Experte, in Zusammenhang mit der europäischen Außenpolitik sieht.

Herr Roithner, in diesem Jahr ist die zweite Auflage ihres Buches „Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik” erschienen. Hat sich durch die aktuelle Situation, die ja auch in sicherheitspolitischer Hinsicht sehr spannend ist, eine Veränderung ihrer Ansichten ergeben oder sind diese eher bestätigt worden?
Grundsätzlich habe ich aufgrund der personellen Situation innerhalb der Europäischen Union keine gravierenden Veränderungen erwartet. Insgesamt würde ich sagen, dass wir es seit 2016 mit einer Charakterveränderung der EU zu tun haben, die in erster Linie vom Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 ausgeht. Das liegt daran, dass Großbritannien europäische Sicherheit zu einem großen Teil immer auch als transatlantisch definiert hat. Sprich: ohne NATO und die USA läuft in der EU aus der Sicht Großbritanniens gar nichts. Frankreich und Deutschland haben da immer ein bisschen anders gedacht. Seit 2016 fühlen sich also all jene, die schon zuvor bestrebt waren, eine autonome Sicherheits- und Militärpolitik für die EU zu schaffen, bestärkt. Nachdem Großbritannien nicht mehr an den Diskussionen teilnehmen konnte, nahm die Diskussion über ein militärisches Hauptquartier und einen European Defence Fund sehr schnell Fahrt auf. Die Projekte waren innerhalb weniger Monaten beschlussreif. US-Präsident Donald Trump, Chinas globale Politik und die Menschen, die vor Krieg und Armut davongelaufen sind, haben ihr Übriges zu dieser Entwicklung beigetragen.

Gibt es noch andere Beispiele?
Im letztgültigen Vertrag von Lissabon wird ganz klar festgehalten, dass Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen nicht zu Lasten der Union und des Unionshaushaltes gehen dürfen. Trotzdem sollen Gelder aus dem Haushalt in einen EU-Rüstungsfonds, in ein militärisches Hauptquartier und in ein militärisches Schengen fließen. Dabei hat man sich, meiner Meinung nach aus guten Gründen, darauf geeinigt, dass die EU kein militärisches Projekt, sondern ein Projekt, das die Staaten Europas zusammenführt, sein soll. Das war die eigentliche Idee der Union. Deshalb spreche ich hier auch von einer Charakterveränderung. Diese „neue” Rüstungspolitik ist kein Selbstzweck, sondern es geht darum, militärische Auslandseinsätze entsprechend durchführen zu können und Rüstungsexporte zu forcieren.

Welche anderen Kritikpunkte haben Sie?
Was ich in außenpolitischer Hinsicht bedenklich finde, ist, dass die Mitgliedsstaaten bei einer Vielzahl zentraler außenpolitischer Fragestellungen nicht an einem Strang ziehen. Es gibt beispielsweise keine Strategie für die Flüchtlingspolitik. Aber auch keine Strategie dafür, wie mit dem chinesischen Seidenstraßenprojekt umzugehen ist. Oder mit dem Thema Atomwaffen. Keine gemeinsame Haltung zu haben, führt in gewisser Weise immer auch zu Unbeweglichkeit. Man hat keine Chance, wirklich aktiv zu werden. Militärische Instrumente und Einsätze mit mangelnder außenpolitischer Grundlage sind hochproblematisch.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Möglichkeiten, doch etwas zu verändern und beweglicher zu werden?
Es ist nun schon sehr häufig gesagt worden, aber auch ich sehe im Multilateralismus eine Chance. Bei der Frage, was eine gemeinsame Außenpolitik bewirken soll, sollte aber nicht die Frage der militärischen Sicherheit im Vordergrund stehen, sondern die Frage der menschlichen Sicherheit, angeknüpft an die Bedürfnisse der Menschen. Da haben wir bereits gute Instrumente im Rahmen der Vereinten Nationen wie zum Beispiel die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO, die aus meiner Sicht zu einem großen Teil Instrumente eines umfassend verstandenen und zivilen Krisenpräventionsbegriffs sind. Sie sind ein wichtiger Beitrag, um nicht nachher militärisch reagieren zu müssen, sondern schon wesentlich früher, im Rahmen einer intelligenten Krisenpräventionsagenda, agieren zu können.

@Privat
Thomas Roithner ist Friedensforscher und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Er ist außerdem Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig mit Zuständigkeitsbereich Ziviler Friedensdienst und aktive Friedenspolitik.

Wie gut halten diese Ziele wirtschaftlichen Interessen stand?
Das ist ein zentraler Punkt. Wenn man beispielsweise auf die Volksrepublik China schaut, wie viel Gewicht kommt dem dort herrschenden Menschenrechtszugang tatsächlich zu, wenn es darum geht, Güter zu verkaufen und zu kaufen? Aber auch in Hinblick auf den afrikanischen Kontinent, wo durch die Exportpolitik der EU-Mitgliedstaatenregionalen Produzenten und Produzentinnen ihre Lebensgrundlage erschwert oder zum Teil entzogen wird. Und es ist ein Trugschluss, dass uns das in Europa nicht betrifft. Gerade in unserer heutigen Welt, die immer näher zusammenrückt, sollte der Gedanke der gemeinsamen Sicherheit noch deutlicher ins Zentrum geholt werden. Sicherheit kann man nicht gegen andere erreichen. Das augenscheinlichste Beispiel sind Rüstungsexporte: Die EU-28 haben einen Anteil von 26 Prozent am globalen Waffenverkauf. Werte wie Menschenrechte gehen mit dem wirtschaftlichen Interesse des steigenden Rüstungsexports nicht unter einen Hut.

Spannend war auch, wie sehr sich in den vergangenen Monaten ein Wettkampf entwickelt hat, welches Land am besten mit der Pandemie umgeht. Anstatt nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen …
Es gab durchaus einige Bestrebungen innerhalb der EU, sich zu überlegen, wie ein gesamteuropäischer Ansatz zum Umgang mit der Pandemie aussehen kann. Was in erster Linie passiert ist, sind nationale Reflexe wie Grenzschließungen und ähnliches. Gleichzeitig hat Josep Borrell gesagt, dass Gesundheit jetzt ein Sicherheitsproblem ist. Aber wie sollen uns PESCO und der European Defence Fund dabei helfen, künftig derartige Krisen zu bewerkstelligen? Auch hier sollte es verstärkt um Prävention gehen und es wäre in meinen Augen sehr wichtig, sich die Frage zu stellen, auf welche Instrumente man überhaupt zurückgreifen möchte.

Wie meinen Sie das?
Es stört mich, dass es eine generelle Tendenz dazu gibt, zur Bearbeitung unterschiedlichster Problemstellungen auf das Militär zurückzugreifen, obwohl diese nicht militärisch lösbar sind. Es sollte daher sehr viel öfter die Frage gestellt werden, welche Institution in einem Land für welche Probleme zuständig ist. Wenn man der Ansicht ist, dass man für eine spezifische Problemstellung das Militär braucht, dann sollte man eine Debatte darüber führen. Wenn sich herauskristallisiert, dass man mehr SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und PolizistInnen braucht, dann sollte man auch diese Menschen heranziehen beziehungsweise mehr Menschen aus diesen Berufsgruppen einstellen.

An dieser Stelle würde ich noch sehr gerne den Zivilen Friedensdienst ins Spiel bringen. Im Regierungsprogramm ist ein solcher ja verankert. Mit welchem Gefühl blicken Sie diesbezüglich in die Zukunft?
Ich bin optimistisch. Es gibt in Österreich Institutionen, die sich schon seit 30 Jahren für einen Zivilen Friedensdienst einsetzen. Ende Mai wurde ein Entschließungsantrag dazu eingebracht, der angenommen wurde. In der Debatte, die den Antrag begleitete, wurden bereits viele wichtige Themen angesprochen, unter anderem die Funktion Österreichs als Brückenbauer. Ich versuche immer wieder zur betonen, dass Außenpolitik, Friedens- und Sicherheitspolitik nicht nur Angelegenheiten von Ministerien sind, sondern gesamtgesellschaftliche Aufgaben, bei denen auch die Zivilgesellschaft etwas beizutragen hat. Wir sehen am deutschen Modell, wie gut das funktionieren kann. In Deutschland gibt es bereits seit 1999 einen zivilen Friedensdienst, der mehrfach genauestens evaluiert wurde. Insgesamt bin ich also mit dem Verlauf der Diskussion sehr zufrieden.

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Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Diesen Satz aus der Lehre Heraklits verfolgt Sarah auch im Berufsleben. So hat sie zum Beispiel schon über Autos, Beton, Geld, Musik und Frauen in der Wirtschaft geschrieben. Privat steigt sie ziemlich gerne in Flüsse und ist überhaupt gerne draußen unterwegs. Je mehr Action, desto besser.